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Venus In Flames - Live

Merlin / Stuttgart

Ein Abend zwischen Herz und Verstand

22.01.2005

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Venus in Flames, Merlin/Stuttgart

Sind wir doch mal ehrlich: Vor solchen Konzerten hat man eine Heidenangst. Angst, dass die die Band live versagt, während das Album seit Wochen in Dauerrotation läuft. Angst, dass die Band live grandios ist und deine ganz privaten Helden zum Liebling des Massengeschmacks werden. Angst, dass dich die Songs in der öffentlichen Atmosphäre kalt lassen - Angst, dass die Songs dich zu heftig mitreißen.

Stuttgart, Samstagabend, 21 Uhr: Da haben wir uns doch tatsächlich Sorgen gemacht, wir würden das „Merlin“ nicht finden. Warum auch schon so früh hingehen? Wo 21 Uhr drauf-steht, geht es doch meistens erst ein paar eingeschlafene Füße und einige ausgerenkte Hals-wirbel später los.

Weit gefehlt, nicht das schmucke „Merlin“ war die Unbekannte in unserer Rechnung - nein, die ganz triviale Parkplatzsuche brachte uns um die besten Plätze. Scheinbar ist es in Stuttgart einfacher, jemanden zu finden der hochdeutsch spricht, als einen lausigen Platz zwischen Einfahrten und anderen Unverschämtheiten der Straßenverkehrsordnung.

VENUS IN FLAMES waren „meine“ Neuentdeckung des vergangenen Jahres. Aus dem Nichts haben sie sich in die wichtige Region meiner CD-Sammlung gespielt. Musikalisch pen-deln sie zwischen den traurigen Abgründen und der hoffnungsfrohen heimlichen Euphorie des Lebens und Liebens. Die unbeschwert anmutende Stimme von Joe de Campenaere bohrt tief und nimmt dich dabei an die Hand, ohne platt oder gar kitschig zu wirken. Das Leben, dein Leben ungeahnt nah und doch mit genügend Abstand um genau richtig zu treffen.

Wieso Konzert? Lecker Bistro mit zugegebenermaßen etwas gehobenerem (oder soll ich sa-gen „gesetzterem“) Publikum. Gut, der Auftritt im Anti-Flag-T-Shirt, einer gewissen „Becks“-Fahne gepaart mit dem leicht schizophrenen weil konzert-suchenden Blick war nun wirklich nicht der souveränste...

Aber erstmal reingestolpert, einfach gerade durch und schon sind wir mittendrin. Im gut gefüllten Saal, seines Zeichens irgendwie eine Mischung aus Kleinkunstbühne für Comedy- bzw. Jazz-Matinees und Bar, garniert mit einem leicht elitären Hauch.

Und dann trifft es einen: Unvorbereitet, Platz suchend, buchstäblich zwischen den Stühlen: Die Stimme, von der man nicht glaubt, dass sie von dem Typen kommt, der da oben steht. E-her der klassische BWL-Student in der ARAL-Nachtschicht oder einer der netteren IKEA-Mitarbeiter, und dann so was.

Mit einer unglaublichen Sicherheit um die Wirkung seiner Stimme, locker und ungezwungen, die wertvollen Songs von der CD daheim nur in pur. Ob als „one man and his guitar” oder am e-Piano präsentiert der Traum aller Schwiegereltern seine Emotionen routiniert und berührt zugleich. Die gespielte Unsicherheit in seinen Ansagen ist gleichermaßen Professionalität und Tarnung, zu perfekt ist seine Performance ohne Improvi-sationsmomenten dabei zu vernachlässigen. In die Stille nach dem Applaus mischt sich Be-troffenheit, peinlich-berührt werden die Saiten der bereits tausendmal gestimmten Gitarre gezupft und gespannt.  

Gestartet wird mit mir unbekannten Songs, das Set ist lange - mehr als nur die „Random“-Taste des Debütalbums „Notes Of Tenderness“. Neue Stücke sind dabei, Akustikgitarre, Soli mit Cover von RADIOHEAD und PORTISHEAD (wie genial!) und der schüchterne Flirt mit dem Publikum. Bläser werden durch Mundharmonika-Einlagen ersetzt, die sympathische Band gibt alles um perfekt zu sein ohne dadurch aufzufallen.

Dazwischen gibt es eine lange Pause: Wie im Theater nur mit echten Gefühlen und zwei Zugaben. Auf den Verstärkern und Boxen die Erinnerungsfetzen in Form von Aufklebern des Supports bei K´S CHOICE, von den einige Mitglieder auch auf dem Album kräftig mitgewirkt haben. Das Publikum ist hörig und lauscht gebannt, vereinzelt-ungläubiges Kopfschütteln und sehnsüchtige Blicke des weib-lichen Anteils. Gelesen hat man ja vieles im Feuilleton: Wir sind jung, wir sind unvoreinge-nommen, wir gehen zu VENUS IN FLAMES und kennen die CD nur aus dem Kulturteil der überregionalen Zeitung. Freude und Genugtuung hat, wer nicht nur zuhören sondern auch mitgehen kann.

Die versteckten Hinweise sind es, die mich überzeugen: Eine ins Mikro genuschelte „I´m in a sad mood, maybe this one can help me out...“- Ansage, „Silent Treatment“ im Anschluss, das erste Mal ein Stimme, die bricht und am Schluss ohne Band nur mit Akustikgitarre „The Sound Of Breaking Hearts“.

Ich möchte keinem was Böses wünschen, aber wie muss man drauf sein, um solche Eindrücke so treffend-genial in Noten zu bannen - nach der Version von „Cynthia´s Gone“ ist die Frage eines Konzeptalbums allerdings hinfällig. Was einen Men-schen dazu treibt, seine Gefühle so auf dem Silbertablett zu präsentieren - diese Frage stellt ich mir jedes Mal, nicht nur bei Joe de Campenaere, sondern bei allen Singer/Songwriter dieser Güte. Die Aussicht auf Linderung, Genugtuung, Beachtung... Ich werde es nicht ver-stehen, aber solange es passiert nehme ich daran Teil.

Die vorletzte Zugabe bietet Ausblick auf neues Material, „Starting New“ ist rockiger und kommt ganz nach dem Radio-tauglichen „Better Man“. Eine neue Lebenseinstellung vielleicht, solange der Grundton unverändert bleibt. Und danach stehen sie alle am Tisch, wo der smarte Typ von der Bühne seine CDs verkauft, er gibt Autogramme, erntet sehnsuchtsvolle Blicke und Bewunderung.

Das war besser als der Leitartikel in der FAZ, der Beaujolais Primeur der vergangenen Saison und die letzte COLDPLAY werden sie sich jetzt denken.

Meine unverhohlene Begeisterung mischt sich mit dem letzten ergatterten Becks Gold, der Zufriedenheit und einer gewissen Erleichterung. Ein Teil der Angst war unbegründet. 

review: basti
foto: simon


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