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Sigur Ros - Live

Palladium / Köln

Ein wenig Schatten und ganz viel Licht

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Etwas Skepsis schwingt schon mit, als die Karte für das Konzert im Kölner Palladium mit zitternden Händen am Kartenvorverkauf erstmals in Augenschein genommen wird. Unbestuhlt? Das hat es bei Hallenkonzerten von Sigur Ros schon lange nicht mehr gegeben. Dementsprechend konnte man sich unter dem Vorbehalt gute Sicht auf die Bühne haben zu wollen auf einen mehr als dreistündigen Stehmarathon im gut gefüllten Palladium gefasst machen.
Bei der Vorgruppe Amina handelt es sich um das ebenfalls isländische und feminine Streicherquartett von Sigur Ros. Ihre musikalische Ausrichtung ist jedoch weitaus elektronischer und hat damit eher noch die Isländer Múm anstatt Sigur Ros als Inspirationsquelle. Wo jedoch Múm erst vor zwei Monaten ein fantastisches Konzert im Gebäude 9 gespielt haben, ist der Sound von Amina noch zu wenig ausgereift und eigenständig für ein solch großes Publikum. Immer wieder hört man spannende Ansätze heraus wenn sich Glockenspiel oder Streicher mit oftmals orientalisch klingenden Beats verbinden. Und trotzdem ist die Musik als ganzes langweilig, weil den vier Mädels die Attitüde scheinbar wichtiger ist als die eigenen Kompositionen. Weingläser und selbst eine Säge werden als windschiefe Instrumente zum reinen Selbstzweck benutzt und sind nur ein allzu offensichtlicher Versuch, auf die Idee mit dem Geigenbogen von Sigur Ros noch eins draufzusetzen. Offensichtlich haben beide Bands nichts gegen das Island-Klischee vom schrulligen Naturvolk. Amina werden trotzdem nach dem letzten, fast tanzbaren Song begeistert hinter die Bühne entlassen. Denn süß waren sie in ihren Kleidchen ja schon.
Danach wird ein überdimensionaler Vorhang vor der Bühne aufgezogen. Aus den Boxen wabert und wummert es konstant undefinierbare Soundlandschaften, ehe Sigur Ros hinter den Vorhang treten und die ersten Takte der „Takk“-Single "Glósóli" spielen. Und tatsächlich hat man bei dem stampfenden Beat des Openers das Gefühl, das etwas ganz Großes hinter dem Vorhang sein Kommen schon von weitem ankündigt. Ein Ungetüm? Eine überdimensionale Armee? Ein großartiger Konzertabend? Durch den Vorhang sind nur die Umrisse der Musiker zu erahnen, die durch das Licht aus dem Hintergrund der Bühne übergroß auf den Vorhang projiziert werden. Als dann Sänger Jón Thór Birgisson zum finalen Noise-Ausbruch seine Stimme in die Höhe schraubt wünschte man sich der Vorhang würde zerfetzen, um den Energiefluss von der Bühne in die Zuschauermenge noch stärker strömen zu lassen.

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Nach "Glósóli" wird der Vorhang beiseite geschoben und man sieht zum ersten mal diese vier unprätentiösen und jungen Gestalten von der Insel im Nordatlantik, die für diesen Bildersturm in den Köpfen verantwortlich sind. Im Gegensatz zu den Supergroups des Rock verbindet man mit Sigur Ros ohnehin kaum die Namen oder Gesichter der Musiker, sondern vielmehr Stimmungen, die in einer Art Cinemascope-Film vor dem geistigen Auge ablaufen.
In den folgenden 90 Minuten liefern Sigur Ros einen subjektiven Querschnitt ihrer letzten drei Alben und können es sich dabei beinahe selbstverständlich leisten, einige ihrer besten Kompositionen nicht zu spielen, um dafür das neue Album „Takk“ fast in voller Länge präsentieren. Schade nur, dass einzig das fantastische Epos „Milano“ weggelassen wird, dass Sigur Ros aber bereits auf ihrer letzten Tour vor zwei Jahren im Programm hatten. Auch „Svefn-G-Englar“, „Starálfur“, „Untitled 1“ und den infernalen „Von“-Klassiker „Hafsol“ haben sie zu Hause in Island gelassen. An der Setlist gibt es dennoch wenig auszusetzen, weil die Formel psychedelische Elektronik plus folkloristische Esoterik plus dynamische Spannungsbögen ohnehin stets zu funktionieren scheint. „Ný Batterí“ vom Meilenstein „Ágætis Byrjun" dröhnt einem wegen der Verbindung von Gitarre, Geigenbogen und den scheppernden Schlagzeugsalven von Orri Pall Dyrason noch in den Ohren, da schmeicheln sich bei „Sé Lest“ bereits Glockenspiel und mächtige Geigen in den Gehörgang. Gleichmäßig und majestätisch fließt „Untitled 4“ am Publikum vorbei, ehe "Gong" ähnliche Soundlandschaften mit vertonter Naturgewalt einen der vielen isländischen Wasserfälle hinunterstürzt.
Es ist genau diese Bipolarität der erzeugten (Natur-)Stimmungen, die Sigur Ros zu einer unkopierbaren Band machen. Klingt "Saeglópur" wie Sturm oder Gewitter, dann ist „Hoppípolla“ der dazugehörige Sonnenschein. Trotzdem überwiegt an diesem Abend dann doch der Schönklang. Das vom Piano getragene "Vidrar Vel Til Loftárasa" mit dem Videoclip der zwei sich küssenden Buben auf dem Fußballfeld wirkt allein durch den überdimensional projizierten Videoausschnitt des Puppenkopfes doppelt so ergreifend und das zum Abschluss des regulären Sets in minimaler Besetzung vorgetragene „Heysátan“ kommt ausnahmsweise auch wunderbar ohne den sonstigen Bombast aus.

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Für die Zugabe "Popplagid (Untitled 8)“ vom Album „( )“ wird der Vorhang daraufhin wieder zugezogen. Fast zehn Minuten lang bauen Sigur Ros mit unglaublicher Dramaturgie eine Wall Of Sound auf, die danach krachend in sich zusammenstürzt. Wahnsinn. Mund offen. Apokalypse. Zum ersten mal nach drei Stunden ist man froh, sich auf einem Stehkonzert zu befinden, um einigermaßen geerdet zu sein. Als die Musik längst gegangen ist werden noch wirre Bildersequenzen auf den Vorhang projiziert, die einzig Sprachlosigkeit und evozieren. Beim Verlassen des Palladiums stolpert man über mehrere Menschen, die sich dem Visuellen entzogen haben und mit geschlossenen Augen auf dem eisigen Hallenboden liegen. Ob sie träumen, fantasieren oder eingeschlafen sind, lässt sich nicht sagen. Allein zufrieden sehen sie aus.
Fazit: Für alle Schwärmer, die schon im Sommer die Tour (am besten noch irgendwo im europäischen Ausland) besucht haben, schon in Island auf Vulkane geklettert sind und mittlerweile überall Trolle und Elfen sehen, ein mehr als souveräner Abend (die Reizschwelle steigt schließlich auch beständig). Für das Publikum mit Erstkontakt zu Sigur Ros dagegen ein unaussprechliches, fast "göttliches" Fest der Sinne. Davon gehe ich als Kategorie-1-Mensch jetzt einfach mal aus.

Christoph Dorner

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