Wegweiser durch sellfish.de

independent online music  |  info@sellfish.de

Pretty Girls Make Graves Interview

L’Evolution creatrice

 

PGMG.jpg

Als Henri Bergson “L’Evolution creatrice“ 1907 veröffentlicht, gibt es so etwas wie Gitarren-Amps und teure Produktionsstudios noch gar nicht. Das Jahr der ersten Farbfotos ist nicht gerade geprägt von besonderer Schnelllebigkeit. Das Jahrhundert hat noch gar nicht begonnen, die großen Kriegswirren, die Europa in den Abgrund ziehen werden, sind noch nicht abzusehen. In dieser Zeit lässt es sich noch herrlich philosophieren. Henri Bergson tat dies u.a. mit seiner Theorie der „Schöpferischen Entwicklung“: im Gegensatz zu Kant sieht Bergson Zeit und Raum getrennt voneinander. Der Raum ist in sich homogen, die Zeit hingegen nicht. Jeder „Zeitpunkt“ ist unumkehrbar, einzigartig. Im Gegensatz zum Raum kann sie nur durch unmittelbare Intuition erfasst werden. Diese Intuition nennt Bergson „Elan Vital“, Lebenskraft. Womit auch der Bogen von philosophischer Weltanschauung zur modernen Rockmusik geklärt wäre.

„Elan Vital“ heisst nämlich das neue Album von „Pretty Girls Make Graves“. Und diese Lebenskraft spürt man, in jedem Augenblick dieser Platte. War man auf dem 2002 erschienen Album „Good Health“ noch mit beiden Beinen im Punk, ist man jetzt, nach dem großartigen „The New Romance“ (2003) schließlich mit beiden Beinen im ...... ja, wo ist man eigentlich gelandet? Zwischen Fleetwood Mac, Joy Division, den Replacements, Can und The Birthday Party vielleicht? Annähernd, ja. Aber in erster Linie kann man es wohl mit Bergson halten. Man ist dort, wo Zeit und Raum unabhängig voneinander existieren: der Intuition. Pretty Girls Make Graves haben ein Album veröffentlicht, das zwar drei Jahre brauchte, dabei sicherlich einen langen „Leidensweg“ hinter sich hat, letzten Endes aber genau diese Zeit brauchte, um aus der Intuition einer Band Materie zu schaffen. Sofern man Musik überhaupt als Materie bezeichnen mag.

Nathan, Gitarrist der Band aus Seattle, ist ausgestiegen. Mit Leona ist jetzt eine Keyboarderin an Bord, deren Instrument zwar nicht gänzlich neue Komponenten hinzufügt, diese jedoch auszubauen versteht: die Popmusik hält Einzug. Was für viele das Ende kreativer Schaffensphasen bedeutet, ist für die „Pretty Girls“ so etwas wie ein weiterer Schritt nach vorn. Denn man hält es nicht allein mit Punk und Pop. Da ist alles: Jazz, Rock, Blues, Prog, Hardcore ... einfach alles. Und dennoch keine Konsensplatte, sondern ein Manifest. Zu diesem Zeitpunkt eben einzigartig, unumkehrbar. Bergson lässt grüßen!

Den Schaffensweg des Albums sieht Gitarrist Derek Fudesco am Telephon keineswegs düster. Er ist euphorisch, endlich über diese Platte reden zu können, die für die Band zum „Dreh- und Angelpunkt der letzten drei Jahre“ geworden ist.

pretty_girls_2.jpg

Derek Fudesco: Nachdem wir unseren Gitarristen verloren hatten, haben wir angefangen zu viert zu schreiben. zwölf Songs sind dabei herausgekommen, bis wir uns entschlossen, doch ein neues Bandmitglied zu verpflichten. Wir hatten eine Freundin, Fiona, eine Keyboarderin. Wir gaben ihr die zwölf Songs und sagten: „Hey, nächste Woche gehen wir nach New York und nehmen die auf. Und du sollst mitspielen!“ Das war natürlich eine unglaublich dumme Idee. Wir sind dann mit Phil, der auch unsere vorherigen Alben produziert hatte, nach New York gefahren um aufzunehmen. Nach ¾ der Aufnahmen stellten wir fest, dass das ganz schöner Mist war, den wir da aufgenommen hatten. Das war eine grauenhafte Feststellung. Also mussten wir Matador anrufen, die Albumaufnahmen canceln und bekannt geben, dass wir uns noch mal nach Hause zurückziehen würden, um neue Songs zu schreiben. Das hat dann auch wunderbar geklappt, wir haben letztlich nur drei Songs von den alten Aufnahmen auch auf das neue Album genommen. Leona hat phantastische Arbeit geleistet. Sie hat eine ganz neue Atmosphäre in das Songwriting gebracht. Zum ersten mal hat jeder eigene Songs beigesteuert. Wir waren plötzlich offen für alles. Einmal kam Leona mit einem Spielzeug-Akkordeon an, dass sie statt eines gewöhnlichen Keyboards spielen wollte. So haben sich viele neue Ideen eingeschlichen.

Was war der Grund für eure Entscheidung, das Album komplett zu überarbeiten? Kommerzieller oder kreativer Druck?
Der einzige Druck den wir verspürt haben, war der, uns selbst glücklich zu machen. Und kommerziellen Druck sowieso nicht. Wir sind keine kommerzielle Band. Wenn wir überhaupt mal Druck verspürt haben, dann war das mit „New Romance“, weil wir ein Label finden mussten und weil wir schließlich den Ansprüchen Matadors genügen wollten. Jetzt sind wir bei Matador und fühlen uns frei, nur noch uns selbst genügen zu müssen, was meistens eh das schwierigste ist.

Was unterscheidet das neue Album von „The New Romance“?

Elan Vital hat viel mehr Persönlichkeit als New Romance. „It’s a lot more colourful.“ Wir haben die Einflüsse jedes Bandmitglieds gebündelt und eingebracht. Da ist Jazz, New Wave, Rock, Sechziger-Jahre Popmusik ...

pretty_girls-03.jpg

... und düstere Joy Division - Songideen?
Ja, das sehe ich schon ähnlich. Wobei ich es eher als „stimmungsvoller“ betrachten würde, nicht düster. Aber es gibt eben auch wahnsinnig fröhliche Songs auf dem Album. Es hat lange gedauert, das Album in die richtige Form zu pressen, weil da so viele Einflüsse zusammengekommen sind. Ich hatte oft Angst, es könnte nicht homogen genug klingen.
Wenn ich mit einer Songidee kam, und jemand anderes diese weiterentwickelt hatte, dann war das ganz weit von dem entfernt, was ich ursprünglich im Kopf hatte. Damit musste ich dann erst mal klar kommen.

Und Andrea Rollo, eure Sängerin, hat wieder alle Texte selbst geschrieben?
Da ich glaube, dass die Lyrics genauso wichtig sind wie die Musik, ist großes Vertrauen in denjenigen nötig, der die Texte schreibt. Wir vertrauen Andrea da vollkommen. Sie soll sich ausdrücken wie sie es für richtig hält.

Und Matador ist für euch nach wie vor ein gemütlicher (Label-)Platz?
Es gab und gäbe keinen Grund, Matador zu verlassen, sie haben alles richtig gemacht. Und sie haben uns vertraut, als wir ihnen gesagt haben, dass wir das Album einstampfen und noch mal komplett von vorn anfangen. Das muss man erst mal kommerziell verkraften als Label.

Euer Cover zeigt ein simples Eis vor schwarzem Hintergrund. Wer ist denn auf diese Idee gekommen?
Wir saßen bei Nick in der Küche. Und an der Wand hing ein uralter Wandteppich. Und mitten darauf prangerte dieses Motiv. Und weil wir gerade dabei waren, ein Covermotiv zu suchen, sprang es uns förmlich ins Gesicht!

Wer hat diesmal produziert?
Diesmal hat Colin Stewart (Black Mountain, Pink Mountain Tops usw.) produziert. Er hatte von uns noch nie gehört. Er gehört zu den Produzenten, die sich nicht allzu sehr einmischen, die nicht die Kontrolle über die Band und das Album übernehmen. Es hieß von ihm aus: „Habt Spaß, spielt was ihr wollt, ich nehme nebenbei auf. Wenn ihr keinen Spaß mehr habt, dann machen wir eben eine Pause.“ Das hat wunderbar funktioniert.

Interview + Text: Robert Heldner
Fotos: Offizielle Pressefotos Matador


Zum Seitenanfang

ERROR!