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Beirut

Gulag Orkestar

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Wenn Peter Scholl Latour mal wieder vor dem Kreml steht und über die Tristesse des Post-Kommunismus sinniert, sollte er sich vielleicht den 21-jährigen Zach Condon dazuholen. Dessen Polka-Folklore-Pop ist nämlich genauso weit, melancholisch und vodkageschwängert wie Mütterchen Russland.
Musik funktioniert nunmal am besten mit Bildern. Gegen die Impressionen im Hirn kann man sich auch gar nicht wehren. Sie entstehen unweigerlich. Während bei 99% der Bands lediglich deren Live-Auftritte im Kopf abgespult werden, schafft es eine Minderheit, die Musik zur visuellen Erfahrung zu machen. Beirut ist solch eine Band. Zach Condon ist nun also, neben Joanna Newsom, das neue Wunderkind des ausgehenden Jahres und die Musikpresse murmelt schüchtern, dass sie damit nun ja gar nicht gerechnet hatten. Condon hat keinen vernünftigen Schulabschluss, hat die meiste Zeit mit Sauftouren quer durch Europa verbracht und ist mit einem Sack voll Impressionen zurück nach Amerika geeilt, um in Eigenregie sein Debütalbum "Gulag Orkestar" einzuspielen. Es sind triste Dorfgegenden, der faulige Geruch von Einsamkeit, die endlose Weite der Taiga, durchzechte Nächte in heruntergekommenen St. Petersburger Bordellen, abgestandene Schicksale in Berlin Kreuzberg, überhaupt: die alles umfassende Melancholie, die das Album als Bilder im Kopf entstehen lässt. Und, was noch viel wichtiger ist: man fühlt sich auf seltsame Art und Weise den Menschen verbunden. Zach Condon ist also schon deshalb ein Wunderkind, weil er uns auf musikalische Weise (ost-europäische) Gegenden näherbringt, die wir nur aus dem Fernsehen kennen. Ein Verdienst, um den Scholl Latour seit Jahrzehnten kämpft. Condon hingegen friemelt und verschweißt so spielerisch jüdische Folklore, russische Polka, Indiepop mit der Trompete, der Klarinette, Horn, Saxophon, Mandoline, Ukulele, Akkordeon, Glockenspiel und Klavier, dass man aus dem staunen gar nicht mehr herauskommt. Es wäre billig und polemisch, erstaunt darüber zu sein, dass ausgerechnet ein Amerikaner es versteht, sich der ost-europäischen (Musik-)Kultur zu bedienen und sie uns, die wir in direkter Nachbarschaft leben, näher bringt. Traurige Trompeten in "Mount Wroclai", die sich zu einem Walzer emporspielen, oder das einfache und zu Tränen rührende "Scenic World": Condon reist mit seiner flatternden Stimme und dem lyrischen Können durch ganze Jahrhunderte. "A scenic world / where the sun sets all on / breath taking". Das ist das, was man mit "den Menschen umarmen" meint. Atemberaubend!

Bewertung: 8 von 10 Sternen / 49:14 / Indie-Folklore

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