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|| Sebastian Gloser ||

schreibt über...

Arctic_Monkeys.jpgThe_Rifles.jpgPhoenix.jpgSeachange.jpgEscapologists.jpgDelbo.jpgKante.jpgThe_Appleseed_Cast.jpg


Auch wenn man allerorts hört, das Musikjahr 2006 sei kein gutes gewesen, kann ich dem nicht zustimmen. Vielleicht haben die hochkarätigen Favoriten wie Bloc Party, Arcade Fire oder Maximo Park gefehlt. Bands, die wohl alle im kommenden Jahr ihr zweites Album veröffentlichen werden und wieder mächtig abräumen könnten. Die Unzufriedenheit anderer, was 2006 betrifft, kann ich nicht teilen. Spontan würden mir mindestens 30 Alben einfallen, die ich ganz wunderbar finde. Die alle aufzuzählen wäre an dieser Stelle müßig. Dennoch will man sie irgendwie alle erwähnen: Die Herzensangelegenheiten, die schlichtweg guten Platten, die Geheimtipps, aber auch die offensichtlichen Hits. Im Fokus sollen deswegen ein paar Alben stehen, die unter all diese Kategorien fallen und bis zum Ende des Jahres aus den unterschiedlichsten Gründen haften geblieben sind.

An ihnen kam wohl keiner vorbei: Die Arctic Monkeys überzeugten mit ihrer dumm-dreisten Art Tanzflächenhits zu schreiben, die auch zuhause funktionierten und auch noch schlichte gute Texte hervorbrachten. Oben drauf gab es noch eine Handvoll fantastischer Videos und am Ende nur Gründe, vom Hype überzeugt zu sein. Die geschickt platzierte Promostory, um den Ruhm durch einige kostenlose MP3s im Internet muss man nicht glauben, die Band ist auch so überzeugend genug.

Ähnlich jung und mindestens genauso Hitverdächtig: The Rifles. Als diese Platte erschien, waren meine Gehörgänge schon längst übervoll und nicht mehr aufnahmefähig für britische Hype-Bands. Den Opener angehört, für geil befunden und trotzdem nicht weitergehört. Später im Jahr dann Rifles live in Heidelberg. Das Konzert hat mich nicht mitgerissen und dennoch hatte ich anschließend das Gefühl, dass diese und nur diese Band die neuen Oasis werden könnten. Wären sie eine Spur asozialer und hätte es 90er Jahre Britpop nicht gegeben, wären sie wohl die uneingeschränkten Könige. Heute müssen sie sich mit Bands vergleichen lassen, die definitiv nichts mit ihrer Musik zu tun haben. Kein Grund für mich allerdings sich die Scheibe zuzulegen. Dafür brauchte es noch ein total zerrocktes Wochenende in herbstlichen Münster. Samiam und The Lost Patrol live in concert und dann früh morgens „No Love Lost“ in der Anlage beim Schlafplatz, als der Kollege schon längst umgefallen war.

So viel zu den Hits. Wo bleiben die Geheimtipps, die vielleicht gar nicht so wirklich geheim sind? Die Platte vom Hund Marie ist ganz vorzüglich geworden und die Metal Hearts haben vielleicht die Kopfhörerplatte des Jahres abgeliefert. Zu gern hätte man auch über die Wrens geschrieben, die eine fantastisch verschroben-poppige Platte gemacht haben und die auch live nur begeisterte Meinungen hinterlassen haben. Oder über ClickClickDecker, der alle persönlichen Hoffnungen erfüllt hat und seine Stärken auf „Nichts für ungut“ versammelt hat. Say Anything haben das beste Emopopcore-Werk des Jahres gemacht und dennoch leider weit weniger Beachtung bekommen, als My Chemical Romance und Konsorten. Mojave 3 haben das Indiepopalbum des Sommers aufgenommen und Boy Omega die traurigste Post-Winter-Scheibe. Mehr Worte hätten auch Monochrome und Klez.E verdient oder Blackmail, die ein fast perfektes Album aufgenommen haben. Und auch wenn die Veröffentlichung noch ins alte Jahr fällt, liegt die Wirkungsgeschichte klar im Jahre 2006, in dem es die kleine, aufstrebende Rock’n’Roll-Band The Strokes wieder mal geschafft hat, sich selbst zu übertrumpfen.

Nun aber back to my personal albums of the year und da dürfen Phoenix nicht fehlen. Fand ich ja immer ganz nett, aber eher belanglos. Bei solchen Bands braucht es Schlüsselerlebnisse. Sommerurlaub – Hinfahrt – Übernachtung in Reims. Wir sitzen in einer kleinen netten Kneipe und über die Lautsprecher läuft definitiv nicht Radio, sondern ein Album am Stück. Klingt gut denke ich mir und überlege noch an was mich das erinnert. Wenige Minuten später war es beschlossene Sache, dass ich noch in diesem Urlaub „It’s Never Been Like That“ kaufen muss. Völlig nebensächlich die überteuren Preise für Tonträger in Frankreich. Sommerurlaub – Rückfahrt – Auray. Wir schlendern durch ein beschauliches Städtchen, kaufen letzte Souvenirs und dann endlich ein Plattenladen. Tür auf und direkt gegenüber mein Baby. Der Rest ist Geschichte und es ist eine Liebesgeschichte.

Auf die neue Seachange habe ich mich gefreut, wie ein kleines Kind auf Weihnachten. Und zwar spätestens seit dem Tag, an dem ich mich am Debüt „Lay of the Land“ satt gehört hatte. Als das Album dann da war gab es neben viel Euphorie auch kurze Momente der Ernüchterung, weil wieder einmal Größeres aufgrund von fehlendem Geld verhindert wurde. Dennoch ein echter Grower. Und ausgestattet mit so vielen schönen melancholischen Songperlen, die auch diesen Winter locker überstehen werden. Bei den Escapologists war die Zeit dann gar kein Argument mehr. Monate lag sie herum. Wurde zeitweise lieblos behandelt und gar nicht angehört. Der Auftritt im Vorprogramm von Seachange gefiel, aber brachte auch keine Initialzündung. Dann drückt mir kurz vor dem Release der Kollege das finale Album in die Hand und sagt: „Ich kann das nicht besprechen, mir fällt dazu nichts ein.“ Mir eigentlich auch nicht. Platte eingelegt und plötzlich lösen sich alle Knoten im Knopf auf, alles ergibt Sinn. Düsterer Indierock at it’s best von einer Band, die in diesem jahr wohl fast keiner auf der Rechnung hat.

Und wo wir gerade bei Schlüsselerlebnissen sind: Delbo’s „Havarien“ hätte ich mich fast um den Verstand gebracht. Auch so ein Album, auf das ich mich schon lange gefreut habe und als es da war: Nichts. Nicht beim ersten Hördurchgang, auch nicht beim achten. Als würde ich auf eine Eingebung warten, brütete ich über dieser Platte. Und gerade als ich sie aufgeben wollte, packte mich „Havarien“ und ließ nicht mehr los. Das beste Artwork des Jahres. Die größte Verweigerungshaltung. Eine Band, die alles hinterfragt, sogar die grundsätzlichsten Dinge von Musik. Ein komplett neuer Ansatz und unverwechselbar, denn keine andere Band klingt wie Delbo. In Sachen Radikalität schlägt dieses Trio eine Band wie Converge um Längen und Delbo müssen dabei nicht einmal schreien. Mein persönliches Album des Jahres, auch wenn zwei andere Bands ebenfalls sehr lange mit im Rennen waren.

Kante und The Appleseed Cast heißen sie und die Alben dazu „Die Tiere sind unruhig“ und „Peregrine“. ‚Lupenrein’ ist dafür gar kein Ausdruck und auch wenn ich Perfektion eigentlich gar nicht leiden kann, wer so runde Alben abliefert, muss am Ende des Jahres einfach ganz vorne stehen. Sieben Songs. Mehr hatten Kante nicht nötig. Alles Mittelmaß außen vorgelassen. Nur das beste auf ein Album gepackt, dass durch seine atemberaubende Atmosphäre und glanzvollen Textzeilen Besitz von einem nimmt. Ausnahmsweise sogar bei mir Liebe auf den ersten Blick. Ähnlich monumental gingen auch The Appleseed Cast vor. Sonic Youth’sche Gitarrenwände treffen auf das, was man vor Jahren einmal Emo nannte und dabei dennoch so eingängig. Platten für die Ewigkeit. Ohne Zweifel.

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