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Mein Vater, der Türke

 

Regie: Marcus Vetter, Ariane Riecker

Ausgezeichnet als „Bester Dokumentarfilm“ auf dem 12. Filmfestival Türkei / Deutschland.

„Lieber Vater,
ich schreibe dir, weil ich mir dieses Jahr fest vorgenommen habe, dich in der Türkei zu besuchen. Wie meine Mutter mir erzählt hat, verbringst du den Sommer immer in deinem Heimatdorf in Anatolien. Sie sagt, du denkst, ich sei Koch, so wie du. Wie wenig wir voneinander wissen. Ich bin Journalist geworden und mache Dokumentarfilme.“ (Marcus Vetter)

Spurensuche. Ein Reisender, der ein Ziel hat. Wie dieses genau aussieht, weiß er in dem Moment, als er in den Bus steigt noch nicht genau. Alles ist offen, außer dass sie sich jetzt nach vielen Jahren wieder begegnen werden. Er, Marcus Atilla Vetter und sein Vater, Cahit Cubuk. Im kleinen anatolischen Bergdorf Cubuk Köyü, der Heimat Cahits und seiner Familie treffen sie aufeinander.
Marcus ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, das letzte Mal gesehen haben sie sich, als er sieben war. Heute ist Marcus, der längst eigene Kinder hat, gekommen, um die Geschichte seiner Herkunft zu begreifen, zu verstehen, warum sein Vater sein Leben lang weg blieb. Der heute 72-jährige Cahit zieht Ende der 60er Jahre als Koch durch Europa und trifft auf Gerlinde, Marcus späterer Mutter.
Sie taucht im Film nie direkt auf, ist für den Zuschauer aber sehr präsent, denn Corinna Harfouch liest eindrucksvoll aus Gerlindes jahrelangen Tagebuchaufzeichnungen. Mit zahlreichen Rückblicken in Form von eingeblendeten Fotos aus Marcus Kindheit und den gefühlsgeladenen Worten seiner Mutter, erschafft der Regisseur und Hauptdarsteller des Films einen berührenden erzählerischen Rahmen für seine Geschichte.

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Auch lernt Marcus zwei seiner vier türkischen Halbschwestern und deren Mutter kennen. Insgesamt verbringen sie drei Wochen miteinander. Marcus konfrontiert seinen Vater mit Fragen und bewirkt damit, dass auch seine Schwestern das erste Mal mit ihrem Vater über ihre Gefühle sprechen. Dabei werden Szenen, in denen Tränen fließen, in denen die Kommunikation still steht bewusst beleuchtet und rufen Authentizität hervor. Cahit Cubuk war auch für seine anderen Kinder selten da. Seine eigene Geschichte, die er seinem Sohn zögerlich anvertraut, ist prägend für sein Verhalten. Er verliert seine Eltern mit 14 Jahren und ist von da an ganz auf sich allein gestellt. „Ich bin ein europäischer Mann“, wirft er trocken ein. Auch treffen bei der von Marcus selbst initiierten Familienzusammenführung verschiedene Kulturen aufeinander. Marcus begleitet seinen Vater in die Moschee und auch die Kamera ist dabei.
Ein Aneinanderrücken scheint zu funktionieren, Marcus Nachbarin Gylai ist dabei, um zu übersetzten. Die Geschwister entdecken gemeinsam die Geschichte ihres Vaters. Der Sohn aber kann nicht verstehen, warum er für den Vater mehr Wert hat als seine Töchter. Er kann nicht verstehen, warum der Vater der Frage nach der fehlenden Gleichstellung der Frau ausweicht.
Cahit kommentiert dies humorvoll: „Meine Frau nix Sohn-Fabrik, meine Frau Tochter-Farbrik.“ Damit ist klar, dass er seine Töchter liebt und ihnen Anerkennung schenkt, trotzdem aber fehlt ihm jahrelang der Sohn. Cahit beantragt damals mehrfach Asyl in Deutschland, hat aber nie Erfolg.

Ein Film über das Aneinanderrücken von Menschen, Gefühlen, Kulturen. Auch die technisch eingesetzten Mittel unterstützen den Zuschauer darin, sich in das Geschehen einzufühlen. Mit dem Einsatz einer wackligen Handkamera wagt der Regisseur sich ganz nah an wichtige Eindrücke, Begegnungen und Bilder seiner Reise heran. Einige solcher Sequenzen werden mit einem grünstichigen Schwarzweiß-Filter hinterlegt und stellen so den Zusammenhang zwischen der Entdeckung der Vergangenheit und der Geschichte seines Vaters und Marcus heutiger Wahrnehmung seiner „neuen-alten“ Familie dar.
Die Mischung aus vielen humorvollen Momenten, in denen Cahit über den Islam, seine Familie aber auch die Wertvorstellungen unterschiedlicher Kulturen „philosophiert“, und die Ernsthaftigkeit, mit der Marcus seiner Geschichte auf den Grund geht, machen den Film zu einem vielseitigen, sehenswerten Puzzle.

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