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Jimmy Eat World Interview

Der schmale Grad

 

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„Just try your best, try everything you can and don’t you worry what they tell themselves when you’re away.”
(The Middle)

Freitag Nachmittag. Es ist saukalt, aber die Sonne scheint prächtig über Nürnberg. Familien strömen in den Tiergarten, in dem gerade ein Eisbärbaby zum Medienstar gemästet wird. In einer angrenzenden Konzerthalle namens „Löwensaal“ werden am Abend Jimmy Eat World das letzte Deutschlandkonzert ihrer jüngsten Europatour spielen. Nachdem ich die Interviewnahrungskette aus deutscher Tourmanager - amerikanischer Tourmanager - Band durchlaufen habe, sitze ich auch schon im kargen Backstageraum, der nur aus Sofa und Laptops zu bestehen scheint. Jim Adkins und Tom Linton, die beiden Sänger und Gitarristen der amerikanischen Emo-Legende aus Mesa, Arizona sind auch da und reißen sich für gestoppte 17 Minuten und 6 Sekunden von ihren High-Tech-Spielzeugen los. Sie sind ungemein höfflich, stellenweise sogar an meinen Fragen interessiert und lassen mich zum Glück auch nicht auflaufen (vgl. Visions #176). Ob sie die Gelegenheit hatten, den Tiergarten nebenan zu besuchen, will ich zum Einstieg wissen: „Es gibt hier einen Tiergarten?“, fragt Tom Linton überrascht zurück. Na das kann ja heiter werden...

Ihr seid gerade mitten in einer ausgedehnten Europatour und davor wart ihr auch noch zu Hause in den USA unterwegs, wie ist die Stimmung im Tourbus?
Tom Linton:
Ziemlich gut. Wir haben gerade noch darüber geredet, dass es bisher unsere schönste Europatour ist. Das Publikum ist fantastisch, wir sind richtig gut eingespielt, es macht einfach Spaß.

Ihr habt schon in so vielen Ländern gespielt, die Clubs werden immer größer und sind ausverkauft, ihr seid auf großen Festivalbühnen gestanden, wie lauten inzwischen eure Ziele bzw. wie motiviert ihr euch weiterzumachen?
Jim Adkins:
Ich glaube wir sind ganz gut darin, uns realistische Ziele zu setzen, die wir auch wirklich erreichen können und uns das dann glücklich macht, wenn wir sie auch tatsächlich erreichen. Ich würde jetzt gerne schon wieder ein neues Album veröffentlichen. Das ist ein Ziel: die Zeitspannen zwischen den Platten zu verkürzen.

Woran liegt das, dass zwischen den letzten Alben immer mehr als drei Jahre lagen?
Adkins:
Wir sind sehr wählerisch was die Songs betrifft und auch sehr pingelig was Details angeht.
Linton: Das Touren kostet natürlich auch unglaublich viel Zeit. Nach der Veröffentlichung von „Bleed American“ waren wir zum Beispiel über zwei Jahre unterwegs.

Spielen Verkaufszahlen für euch eine Rolle?
Adkins:
Nein, denn an Chartpositionen und all dem Kram kann man nicht erkennen, ob man wirklich eine Verbindung zum Publikum hat. Es ist nicht entscheidend, ob du eine Radio-Single hast oder nicht, wenn es darum geht, dass die Fans mitgehen.

Redet ihr innerhalb der Band viel über die aktuellen Umbrüche im Musikgeschäft? Ist die Veröffentlichungspolitik von Radiohead ein Thema bei euch?
Linton:
Auf jeden Fall, aber wir betrachten das mehr so von außen.
Adkins: Wir werden uns auf jeden Fall im Zuge des nächsten Albums wieder damit befassen, man muss da von Album zu Album denken und wie man damit umgeht, ist sicherlich von Band zu Band völlig unterschiedlich. Man muss da clever agieren und entscheiden, welcher Vertrieb für die eigene Band am meisten Sinn macht. Alle Vertriebswege haben ihre Stärken und Schwächen.

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„Make them open the request line and let selection kill the old, turn off your radio.”
(Your New Aesthetic)

Es muss wohl das Jahr 1999 gewesen sein, maximal aber 2000. MTV und VIVA gehören noch nicht zum selben Konzern. Statt Dating Shows und Klingeltonwerbung werden noch Videoclips gespielt. Es gibt Sendungen, die einen eigenen Charakter ausprägen und sogar VIVA Zwei läuft noch über den Äther. Das Musikfernsehen existiert also noch. VIVA-Moderator Tobias Schlegl hat eine eigene Sendung, die zwar mit halbgarem Humor, aber immer wieder auch mit interessanten Live-Gästen glänzt. Eines Abends sind vier Typen zu Gast, die genau so aussehen, wie man sich die durchschnittlichen weißen amerikanischen Middleclass-Highschool-Typen vorstellt. Keine Rockstargesten, eher hemdsärmlig und bodenständig kommen sie rüber und es gibt ein Musikvideo von ihnen zu sehen, das genau in diese Kerbe schlägt. Die Außenseiterrolle gefällt ihnen offensichtlich ganz schön gut. „Lucky Denver Mint“ heißt der Song und er prägt meinen Musikgeschmack nachhaltig. Auf einmal ist alles da, was meine vom NuMetal (sic!) geschundenen Ohren immer vermisst haben. Cleane Gitarren, die dennoch kantig rüberkommen und nicht so überproduziert wirken. Ein stoisches Schlagzeug, das einen trotzdem im nächsten Moment ausflippen lässt. Und mehrstimmiger Gesang, der so viel Popverständnis und gleichzeitig Leidenschaft in sich trägt. Wenige Tage später kaufe ich mir das Album „Clarity“ und entwickele langsam aber sicher einen etwas besseren Musikgeschmack.

„Don’t accept critique or credit, their definition always changes, it’s not the same as yours…” (Here It Goes)

Das neue Album „Chase This Light“ ist nicht schlecht. Ein Song wie „Electable (Give It Up)“ wäre mit einer rauen Produktion sogar ein echter Hit und dennoch trudeln Jimmy Eat World seit der Veröffentlichung von „Futures“ (2004) immer mehr Richtung Belanglosigkeit. Die Trennung von ihrem Langzeitproduzenten und quasi fünftem Bandmitglied Mark Trombino hat ihnen nicht gut getan. Die Starproduzenten Gil Norton und Butch Vig wissen wie man eine erfolgreiche Platte macht, aber eben nicht, wie man dem Pathos, den Jimmy Eat World schon immer in sich trugen, Kanten verpasst und positiv zurecht stutzt. Die Frage, die einem permanent unter den Nägeln brennt lautet: Wie kann man nach so einem Jahrhundertwerk wie „Clarity“’ und einem Monster von Album wie „Bleed American“ so ins Fahrwasser von Klischees und seichten Pop abdriften? Doch man stellt sie natürlich nicht so direkt, das verbietet sich durch den eigenen Anstand und durch die Höflichkeit der beiden Herren links und rechts neben mir. Man muss sich langsam vortasten, doch wirklich schlauer wird man daraus auch nicht...

Wenn man „Chase This Light“ mit früheren Platten vergleicht, hat man das Gefühl, das viel von der Traurigkeit, Melancholie, aber auch Wut nicht mehr da ist. Seid ihr heute einfach glücklichere Menschen?
Adkins:
Als wir uns an das Album gemacht haben, war auf jeden Fall eine gewisse positive Grundstimmung da, weil wir glücklich mit dem waren, was wir bisher erreicht haben.
Linton: Wir konnten das Album diesmal auch in unserer Heimatstadt aufnehmen, das hatte einen großen Einfluss auf unsere gute Stimmung.

Ist es möglich einen traurigen Song zu schreiben, wenn man überhaupt nicht in dieser Stimmung ist?
Adkins
(nach langem zögern): Ja. Wenn man ein Thema eher akademisch und weniger persönlich betrachtet. Ich glaube das geht bei jeder Art von Emotion, auch wenn man vielleicht in dem Moment gar nicht von ihr in Besitz genommen wurde. Traurigkeit, Wut, Frustration und Depression sind alles großartige Themen für Songs, aber ich glaube wenn du wirklich komplett in einer dieser Stimmungen bist, you’re not gonna get the best work done (lacht). Vielleicht kommt da mal ein tolles Lied oder ein großer Text dabei heraus, aber wenn du ein Album machst, solltest du in einer halbwegs gesunden und positiven Stimmung und Verfassung sein.

Was ist schwieriger: ein komplexes Album aufzunehmen oder einen perfekten Popsong zu schreiben?
Adkins:
Beides ist schwierig und man könnte da jetzt ewig Argumente für die eine oder andere Sache finden, aber was uns betrifft, hadern wir eigentlich immer am längsten mit den schlichten Dingen. Da gibt es einen ganz schmalen Grad, wenn man den übertritt, kann man ganz schnell alles kaputt machen. Es ist ganz schwierig, den Song letztendlich so zu gestalten, dass er die meiste Empathie in sich trägt.

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Warum habt ihr nach „Clarity“ euren Sound verändert?
Adkins:
Because we did that (grinst). Wir wollen keinen zweiten Teil von dem machen, was wir gerade getan haben. Niemals! Das ist, warum Musik machen Spaß bringt, dass du dich immer wieder herausforderst und dich in Richtungen pusht, in denen du noch nicht warst. Es darf niemals zu gemütlich werden, man muss weitermachen.

Wie wichtig ist die Wahl eurer Produzenten?
Adkins:
Ich glaube das ist eine sehr wichtige Sache. Verschiedene Menschen haben verschiedene Stärken. Man wählt Menschen aus, bei denen man das Gefühl hat, dass sie einem helfen können die eigenen Ideen und Visionen zu verwirklichen.

Habt ihr inzwischen von den Produzenten so viel gelernt, dass ihr eure nächste Platte auch alleine machen könntet?
Adkins:
Das hängt immer von den Songs ab. Von den Songs und vom Budget (lacht).

Wenn man sich aktuelle Setlisten von euren Konzerten anschaut, könnte man das Gefühl bekommen, dass ihr eure alten Sachen nicht mehr so mögt.
Linton:
Ich glaube wir haben eine ganz gute Mischung gefunden.
Adkins: Die neuen Sachen kommen einfach besser an.
Linton: Wir haben aber teilweise sogar fünf Songs von „Clarity“ im Programm.
Adkins: Nach all den Jahren ist es schwierig bei so vielen Songs auszuwählen, welche man spielt und welche nicht. Es gibt immer jemand, der nicht zufrieden ist, dass wir entweder ein altes Stück nicht gespielt haben oder ein neues weggelassen haben. Wir können dabei nicht gewinnen (lacht).

Du hast gesagt, dass du eure Alben in einem schnelleren Rhythmus herausbringen willst. Wie lange wollt ihr noch mit dieser Platte touren?
Adkins:
At least one more day. We’ll play tonight and see what happens (verzieht keine Miene).
Linton: Wahrscheinlich noch bis Ende des Jahres, vielleicht auch noch ein bisschen in... 2009, ist das das Jahr, was nach diesem kommt?
Adkins: Fuck dude, I don’t know, I just play guitar.

Und danach gibt es erst mal eine ausgedehnte Pause oder geht es gleich an neue Aufnahmen?
Linton:
Wir haben den Vorteil, dass wir in unserem Proberaum inzwischen auch richtig aufnehmen können.
Adkins: Wir können also Songs direkter aufnehmen und müssen nicht mit unzähligen Ideen und ins Studio gehen, um dann ewig abzuwägen und zu diskutieren. Wir können aufnehmen und dann auswählen, welche Stücke auf das Album kommen. So geht alles viel schneller. Naja, zumindest ist das der Plan, ob das genauso funktionieren wird, ist eine andere Frage (grinst).

Interview und Text: Sebastian Gloser
Fotos: Pressefreigaben



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