Wegweiser durch sellfish.de

independent online music  |  info@sellfish.de

Seachange

Rock'n'Roll Scrabble

Neustrelitz Immergut Festival, 29. Mai 2004

interview_picture.jpg

Draußen ist es dunkel, es ist bereits nach 23 Uhr und auf der Hauptbühne werden später THE NOTWIST den krönenden Abschluss dieses beschaulichen Festivals bestreiten. Auf diesen Auftritt freut sich nicht nur der Großteil der Festivalgänger, sondern auch die Band, die soeben auf der zweiten Bühne spielt. Die Absage von PHANTOM PLANET hat es möglich gemacht, dass SEACHANGE erst zu späterer Stunde auf die Bühne müssen und somit im vollbesetzten Zelt einen atemberaubenden Auftritt hinlegen können. Zu schweißtreibender, düsterer Atmosphäre tanzen die Zuschauer vor der Bühne, während sich die Band durch ein 40minütiges Set rockt. Nach zwei Shows im Februar ist das erst das dritte Deutschland-Konzert von SEACHANGE, doch das Publikum ist so mitgerissen und enthusiastisch als hätte es seit langem auf nichts anders gewartet. Alle Anwesenden sind schwer begeistert von diesem englischen Sextett, das als Zugabe noch „small-twon boy“ von JIMMY SUMMERVILLE covert. Ein perfektes Erlebnis und die Erkenntnis, dass diese Band etwas Besonderes ist.

Im März wurde ihr Albumdebut „lay of the land“ veröffentlicht. Ein zunächst etwas schwer zu verarbeitender Brocken Musik, auch wenn bei späterer Betrachtung durchaus eingängige Songs zu finden sind. Ein schwarzes Cover, düsteres Artwork und dunkle Texte kreieren eine etwas unheimliche, geheimnisvolle Atmosphäre. Zwölf Songs, die nicht selten die sechs-Minuten-Grenze überschreiten und ein Sound, der schwer zu beschreiben ist und gewöhnliche Genregrenzen locker sprengt. Ein Sänger, der oft mehr Erzähler, denn Sänger ist, markante Basslinien, ein trockenes Schlagzeug, Synthesizer und zwei Gitarristen, die ihre Instrumente auch gerne mal auf ungewöhnliche Weise bearbeiten. Progressiv Rock? Rock’n’roll? Auf jeden Fall. Aber da ist ja auch noch eine Geige, die dem ganzen einen Folk-Touch gibt und gleichzeitig eine bedrohliche Stimmung erzeugt.
SEACHANGE sind Dan Eastop (Gesang), Simon Aldcroft (Schlagzeug), Dave Gray (Gitarre), Adam Cormack (Gitarre), Johanna Woodnutt (Geige) und James Vyner (Bass) und kommen aus Nottingham. Kennen gelernt haben sie sich alle an der Universität und abgesehen von Jo, die ihr Instrument zu Schulzeiten gelernt hat und Simon, der bereits mit seinem Bruder Musik gemacht hat, war die Band für alle ziemliches Neuland. Instrumente wurden ausprobiert und durch das Zusammenleben in einem Haus und das Zusammen-spielen ergab sich irgendwann der heutige Sound.
Veröffentlicht wurde das Album via Matador; ein englisches Label, das unter anderem auch Bands wie GUIDED BY VOICES oder INTERPOL beheimatet, mit SEACHANGE aber zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine englische Band unter Vertrag genommen hat. Auch auf der Insel scheinen sie also etwas Besonderes zu sein. Zeit für eine etwas genauere Betrachtung dieser Newcomer; möglich gemacht wurde das durch die einwöchige Herbst- bzw. Spätsommertour durch Deutschland.


Schorndorf Manufaktur, 8. September 2004

Scrabble.jpg

Nach Auftritten in München, Hamburg und Köln auf der letzten Tour, hat es die Band dieses Mal in ein kleines Nest östlich von Stuttgart verschlagen. Die Halle ist gut besucht, der Altersdurchschnitt im Publikum erstaunlich hoch, was der Stimmung nach einem etwas verhaltenen Beginn aber nicht schadet.
Vor dem Konzert stehen uns Dan, James und Simon zum Interview bereit, sie wirken ein bisschen müde, sind aber gut gelaunt und überaus freundlich und höflich. Das vorangegangene Essen wird beiseite geschoben, Bier wird verteilt und das Aufnahmegerät auf dem Tisch platziert; direkt neben dem begonnen Scrabble-Spiel, das für den ein oder anderen Lacher sorgt.

Dan: Ja das sieht hier wirklich nicht nach Rock’n’roll aus, aber wir saßen zusammen und haben eben ein bisschen gespielt.

Wir könnten es ja verschweigen... aber wir werden es fotografieren. OK, zu den Fragen: Ihr seid bei Matador und reiht euch in eine Liste von großartiger Bands ein, macht euch das auch stolz oder seht ihr das Label schlichtweg als Partner, der eure Platten veröffentlicht?
Dan: Ach, das ist rein geschäftlich... (lacht)
Simon: Nein, natürlich nicht, wir sind sogar sehr stolz bei Matador zu sein, viele meiner Lieblingsbands sind auf diesem Label.
James: Wir haben früher so viel Musik von Bands auf diesem Label gehört und jetzt sind wir selber ein Teil davon, das ist unbeschreiblich. Manchmal kann ich das noch gar nicht glauben; als wir in den USA Vorband von GUIDED BY VOICES waren, das war schon ein toller Moment.
Dan: Es gibt Leute, die hören sich Bands alleine deshalb an, weil sie bei Matador sind und vielleicht kaufen sie ja dann auch die Platte.

Lasst uns ein bisschen über eurer songwriting reden. Wie läuft das ab, sind die Texte fertig und wird dann die passende Musik dazu gefunden oder ist es genau andersrum?

Dan: Das wechselt eigentlich ständig, manchmal habe ich Texte bereits komplett fertig, manchmal schreibe ich sie während die Musik entsteht.
James: Generell ist der ganze Prozess nicht so einfach bei uns, da sechs Leute gleichberechtigt ihre Meinung zu den Songs haben und so dauert es manchmal ewig bis etwas fertig wird. Oft steht eigentlich der Großteil des Songs und dann diskutieren wir ewig über die kleinen Details am Ende. Auch der Beginn ist total unterschiedlich: Manchmal habe ich eine Basslinie, auf der wir aufbauen, wann anders haben wir Gitarrenmelodien und manchmal eben den Text zuerst.
Dan: Bei den meisten Bands ist das wahrscheinlich anders; da geben ein oder zwei Personen den Ton an, entweder der Frontmann oder ein Gitarrist sticht hervor, bei uns ist das anders, da bringt jeder seine Ideen ein, weshalb alles aber auch länger dauert.

Dave.jpg

Ist es sehr schwer, dass dann auch wirklich alle zufrieden sind mit einem neuen Song?
Dan: Dadurch, dass wir uns jetzt schon relativ lange kennen und zusammen spielen, wissen wir ziemlich schnell, ob ein Song alle zufrieden stellt. Danach kommen die Feinarbeiten.

Manchmal sind die Texte sehr poetisch und voller Wörter, die man normalerweise in Umgangssprache nicht finden würde, ist das ein spezielles Konzept?

Dan: Nein, würde ich nicht sagen. Ich erzähle einfach Geschichten und dann kommt das von selbst bzw. es passt eben; aber es stimmt schon, es sind oft nicht gewöhnliche Wörter, ich weiß aber auch nicht genau, woher das kommt.

Abgesehen von den Live-Fotos auf eurer Homepage gibt es nicht viele Fotos von euch, im Booklet eures Albums ist auch nur ein undeutliches Live-Foto; wollt ihr dadurch die Musik noch mehr in den Mittelpunkt stellen?

Dan: Wir hatten nur ein Fotoshooting und bei sechs Leuten ist es sehr schwer, dass alle mal gut aussehen und nicht blöd in die Gegend schauen.
Simon: Außerdem hätte es nicht zum restlichen Artwork gepasst. Wir hatten diese Bilder, die eine ganz bestimmte Atmosphäre einfangen und dazu hätte kein Bild von uns gepasst. Außerdem haben so viele Bands Fotos von sich in ihrem Booklet, da mussten wir das nicht auch noch machen.

Die Texte und die Songs sind alle sehr melancholisch, traurig und haben eine sehr düstere Stimmung, wollt ihr keine „fröhlichen“ Lieder schreiben?
Dan: Die Texte sind in einem Zeitraum von drei Jahren entstanden und es kann sein, dass eben sehr viele traurige oder melancholische Sachen hängen geblieben sind. Viele Dinge sind persönlich, manchmal erzähle ich ja aber auch Geschichten über Charaktere.
James: Man muss auch bedenken, als wir dieses Album gemacht haben, haben wir in einem sehr kleinen, nicht besonders schönen Keller geprobt und das hat sich sicherlich auch insgesamt auf die Stimmung des Albums ausgewirkt.

Dan_and_Simon.jpg

Dan: Das nächste Album wird dann viel fröhlicher... (lacht)
James: Wir haben uns vorhin durchgelesen, was die Presse hier über uns geschrieben hat und haben uns sehr amüsiert, weil viele geschrieben haben, dass Nottingham sehr schlimm und hässlich sein muss, dass solche Songs bei uns herauskommen, dabei ist das Gegenteil der Fall, wir mögen die Stadt und finden sie eigentlich schon.

Im Bereich von Indie-Musik tragen so viele Lieder diese Stimmung, bei Mainstream-Musik ist das anders, dort geht es fast immer um Spaß und gutgelaunte Menschen.

Simon: Ja das stimmt, warum das so ist, ist schwer zu sagen. Aber R.E.M. zum Beispiel beweißen, dass es auch anders geht. Einen qualitativen Song zu schreiben, der zwar irgendwo auch melancholisch ist und trotzdem gute Laune macht.

„Fog“ der letzte Track auf eurem Album ist total unterschiedlich im Vergleich zu den anderen Songs; er klingt ruhiger, fast ein bisschen positiv, soll das eine Art happy-end darstellen?

Simon: Ja er ist auf jeden Fall anders, es ist so ein Song der passt, wenn man nach einer langen Nacht morgens aufwacht bzw. nach einer langen Nacht ins Bett geht. Er passt definitiv nur an dieser Stelle des Albums, er bildet einen Abschluss.
Dan: Wir hatten eigentlich mehrere Songs, die so klingen, aber die haben einfach nicht auf das Album gepasst. Wir haben diesen Song erst ein einziges Mal live gespielt, auf der Bühne kann man die Stimmung dieses Liedes nicht transportieren, es fehlt live das Klavier. Bei vielen Bands ist der letzte Song auf dem Album ja ein Übergang zum nächsten Album, eine Andeutung wie die neuen Stücke ausfallen und wenn ich unsere neuen Stücke betrachte, könnte das sogar stimmen.

Eure Musik ist nicht politisch, auf eurer Homepage findet man aber links zu MICHEAL MOORE oder Organisationen gegen Rassismus, also seid ihr zumindest politisch interessiert, wollt es aber nicht in die Musik einfließen lassen?
Simon: Ja, das stimmt. Unsere Homepage soll sich eben nicht nur um die Musik drehen, wir haben da ja auch jeder unseren speziellen Teil, wo wir Texte reinschreiben oder Zeichnungen posten und eben auch Links zu solchen Dingen. Bei unserem Bereich auf der Homepage von Matador geht es nur um unsere Musik, bei uns wollen wir auch andere Seiten zeigen. Das muss nicht jeder gut finden, sondern es geht darum es zunächst einfach mal zu zeigen und zu informieren, was dann jeder für sich daraus zieht ist eine andere Sache. Die Homepage dient als Forum, auch für die Fans und die sollen und wollen sich ja nicht nur über Musik unterhalten, sondern auch über andere Themen.
Dan: Was Politik in den Texten oder Musik angeht: Ich habe großen Respekt vor Leuten, die ein wirklich gutes politisches Lied schreiben können, das ist echt nicht einfach.

Davemakesfriends_brighter.jpg

Ihr habt auch in den USA getourt, wie war es dort?
Dan: Unterschiedlich, manche Konzerte waren gut besucht andere weniger, aber die Reaktionen vom Publikum waren eigentlich durchweg positiv.
James: Wir haben dort 22 Konzerte gegeben, das ist einfach nichts, dieses Land ist so riesig. Wir waren alleine viermal in New York. In England ist es auch sehr schwer, weil es relativ klein ist und alle dort spielen wollen. Deshalb gibt es jeden Abend in jeder Stadt mehrere gute Konzerte, da ist es schwer viel Publikum anzulocken.
Dan: Vor allem kommt es drauf an, ob man gehyped wird von den Magazinen oder nicht. Manche Bands haben gerade mal eine Single veröffentlicht, sind das nächste große Ding und schon rennen alle Leute hinterher, dabei kann die Band nicht mal ein richtiges Konzert spielen, weil sie zu wenige Songs haben.

Weil ihr vorhin die neuen Songs erwähnt habt: Spielt ihr bereits neue Stücke live und wann können wir mit einem neuen Album rechnen?

Dan: Ja wir spielen vier neue Stücke und ein neues Album ist auch geplant.
James: Es wird nächstes Jahr erscheinen. (lacht) Das hilft euch jetzt viel, was? Naja, es wird schon noch eine Weile dauern, bis wir alle Stücke geschrieben haben und aufgenommen; selbst die neuen Songs, die wir bereits spielen, sind noch nicht komplett fertig.
Dan: Wir werden etwas entspannen und dann schreiben wir Songs über Liebe... (lacht)

Nach dem Interview gibt es Biernachschub, wir machen Fotos und unterhalten uns noch unter anderem über ihren Auftritt beim Immergut Festival. Die Müdigkeit bei den Protagonisten scheint jetzt verflogen und die Vorfreude auf die Show groß...

Heidelberg Schwimmbadclub, 9. September 2004

joandadam.jpg

Gleiche Uhrzeit, anderer Ort. SEACHANGE spielen das vermeintlich letzte Deutschland-Konzert auf dieser Tour. James ist erkältet und auch die anderen schauen etwas angeschlagen aus von letzter Nacht. Die Bühne ist deutlich kleiner als am gestrigen Abend und die sechs Freunde wirken etwas eingeengt zwischen Schlagzeug und all den Verstärkern. Macht aber nichts, denn nach eigener Aussage haben sie auch schon auf viel, viel kleineren Bühnen gespielt und man kann nur hoffen, dass sie sich dabei nicht verletzen. Gekommen sind heute leider nur knapp 50 Leute, die Band ist trotzdem gut gestimmt, schließlich muss man am letzten Tag noch einmal Gasgeben. James entschuldigt sich vor dem Auftritt noch, dass sie heute das selbe Set spielen wie gestern. Das stört aber kaum, denn so freut man sich erneut über das JIMMY SUMMERVILLE-Cover und vor allem über die neuen Songs, denn die haben mich bereits am Abend zuvor fast zu Tränen gerührt. Die Gitarren stehen dabei etwas mehr im Vordergrund, Melodiebetonter und etwas weniger Krach, als man es sonst gewohnt ist. Aber der Krach wird sicher auch nicht auf der nächsten Platte zu kurz kommen, sofern sie wieder in ihrem dunklen Keller proben.
Das Publikum ist heute abgesehen von der ersten Reihe sehr verhalten und Dan bittet die Zuschauer doch näher zur Bühne zu kommen. Jo, die bezaubernd Deutsch sprechen kann, stellt schüchtern die neuen Songs vor, der großgewachsene Simon muss aufpassen, dass er sich beim Aufstehen nicht an den Scheinwerfern stößt, Dave und Adam legen erneut große Spielfreude an den Tag und James steht heute mehr im Hintergrund und schwitzt. Man merkt ihm an, dass er nicht bei vollen Kräften ist und zwischen den Liedern brummt der Deckenventilator kontinuierlich vor sich hin. Wer den wohl vergessen hat auszuschalten. Egal. Nach einer kurzen Pause leitet „Anglokana“ die Zugabe ein und lockt die letzten Glücksgefühle hervor.
Nach dem Konzert lässt die Band sich dazu überreden, am nächsten Tag doch keine Pause einzulegen, sondern spontan noch ein kurzes Konzert im Karlstorbahnhof in Heidelberg zu spielen. James willigt auch ein und damit steht der Gig, den ich leider nicht mehr miterleben kann, ich werde am nächsten Morgen meine Zelte abbrechen. Damit die Band den nächsten Tag gesund übersteht verteilen wir Jägermeister an die Band und hoffen, dass sie auch den letzten Tourtag in der Schweiz überstehen werden.
Warum die Band etwas Besonderes ist, habe ich nicht wirklich herausgefunden, aber ich weiß, dass sie es ist. Bei der nächsten Tour werde ich hoffentlich wieder dabei sein. Dann wird es ein neues Album geben. Wieder werden mich die Lieder dieser sympathischen Band in ihren Bann ziehen. Und ich hoffe das hört nie auf.

Interview: Sebastian Gloser und Lotta Stemann
Text und Bilder: Sebastian Gloser


ERROR!