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Reeperbahnfestival 2006

- Home is in the Redlight District -

 

21.09. / 22.09. / 23.09.

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Drei Tage lang musikalischer Ausnahmezustand auf der Reeperbahn sind zuende. Drei Tage, in denen auf der "Roten Meile" mal nicht der käufliche Sex auf der Tagesordnung stand, sondern Musik, Musik, Musik.

Eröffnet wird das Event von Tomte. Die Reeperbahn strahlt in rotem, dunkelrotem und gelben Licht vor sich her, während Thees Uhlmann die Bühne betritt und sich sogar zu der Ansage hinreißen lässt, er "habe da hinten, eine Straße weiter" gewohnt, damals. Damals, als Tomte noch vor 10 und nicht 10.000 Menschen gespielt haben, so wie an diesem Abend. Während ich mir mein erforderliches Bändchen am Festivalstand abhole, während ich warte und Menschen beobachte, die Würstchen und Crepes futtern, muss ich irgendwie innehalten und kurz darüber nachdenken: das hier ist die Reeperbahn. Wie oft war ich schon in den Clubs? Molotow? Grünspan? Docks? Und auf einmal haben sie alle geöffnet, von überall strömen Besucher zu den Konzerten und zum ersten mal fühlt es sich so an, als sei die Reeperbahn nicht Schauplatz vieler menschlicher Tragödien, sondern zwischen all dem Schmutz auch ein wenig spirituell - da sind Menschen, die das gleiche Ziel haben. Musik eben. Das melancholische Gefühl wird noch gestärkt, als Tomte "Pflügen" spielen. Einen bedeutenden Song, den sie in den letzten drei Jahren nicht einmal gespielt haben. Der Abend beginnt schön.

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Wegen des dämmernden nächsten Arbeitstages beschränkt sich diesen Donnerstag der Besuch auf das Dan Sartain und das Escapologists-Konzert. Zuerst Dan Sartain: der Garage-Rocker aus Alabama, USA, sieht auf der Bühne des Molotow so aus, als würde er da nicht hingehören. Eher in die düstere Ecke einer verlausten Südstaaten-Kneipe. Schmales Oberlippenbärtchen, eine frappierende Ähnlichkeit mit Hollywood-Beau Steve Buscemi, und den Blues in den verrauchten Fingern wie ein junger, abgefuckter Gott. Dan Sartain spielt wenig vom neuen, demnächst erscheinenden Album "Join Dan Sartain". So todeswillig wie auf Platte ist Sartain leider oder zum Glück nicht. Er spielt gekonnt vor wenigen Besuchern. Schade, in ein paar Jahren werden sie es bereuen nicht dagewesen zu sein. Das könnte man sich glatt auf den Oberarm tätowieren.


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Die Escapologists sind da ein anderes Kaliber. Im Dunstkreis von Seachance spielen die Jungs aus Nottingham geplegten Indie-Rock mit vertrackten, erregenden Passagen, die sich aus Hoch und Tiefs zusammenstauchen und den Zuhörer für einen kurzen Augenblick aus der Realität reißen. Ein bemerkenswerter Auftritt einer beachtenswerten Band. Wie schon bei Dan Sartain an diesem Abend ist der Publikumsandrang eher mau. Das Knust zählt wenig Besucher.

Ganz anders sieht das am Freitag Abend im Grünspan aus. The Rifles spielen auf, Jungspunde aus U.K. Es rappelt im musikalischen Karton, der wohl auf Gallaghers Dachboden gefunden wurde. Hier standen deutlich Oasis, Weller und Libertines Pate. Allerdings legen die Rifles keinen arroganten Gestus an den Tag, sondern begeistern durchweg durch Spielfreude. und wenn ich das richtig gesehen habe, hat sich die Security zwei Mädels geschnappt, um sie in den Backstage-Raum zu führen. Ganz die Rockstars eben!

Völlig anders läuft es, leider, bei David & The Citizens ab. Seit Jahren schon ein Geheimtip im Indie-Land habe ich endlich mal die Chance, sie Live zu sehen. Das Interview im Gras lief harmonisch ab. Der Auftritt weniger. Nichts funktioniert, eine halbe Stunde lang nicht. Als sie dann schließlich doch noch spielen dürfen, auf dieser Mini-Bühne hoch oben im Bunker, im "Turmzimmer", ist das, was aus den Boxen kommt, dennoch großartig. David verausgabt sich, gibt alles und lässt (wohl auch sich selbst) vergessen, dass man nur eine halbe Stunde zur Verfügung hat. Die Ringel-Shirt-Fraktion neben mir tanzt ausgelassen und fröhlich. Alle in dem Raum retten den Abend aller.

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Danach noch 3/4 des Tomte-Sets nebenan im Übel & Gefährlich. Mir fällt Thees Bierbauch auf. Tomte spielen so kraftvoll und schön, dass ich glatt vergesse, wie oft ich die Band jetzt schon Live gesehen habe. Wieder dabei: "Pflügen". Unter Alkohol-Einfluss hätte ich an diesem Abend womöglich irgendwelche Leute umarmt. So bleibt der Drang, nicht der Exzess. Sogar die gesungenen Worte "...die Knarre zu nehmen und alles zu judgen..." fällt, nach Jahren der Verdammung, endlich wieder auf den schmutzigen Boden der Bühne. Ein würdiger Abschluss eines würdigen Abends.

Der Samstag beginnt unwürdig mit Marine im Molotow. Grauenhafter als Die Happy, ich dachte das wäre nicht mehr möglich. Aber im Urschlamm der 90er Jahre wühlt es sich ganz ungeniert und fördert ekelhafte Kröten ans Tageslicht, die zu schlucken eigentlich niemand ernstlich bereit sein dürfte. Dementsprechend leer ist das Molotow, dementsprechen lang ist meine Raucher-Pause draussen vor dem Eingang. Im gleichen Club spielen danach Fortune Drive, Hype-Shit aus England und eigentlich ziemlich gut. iForward Russia! nicht ganz unähnlich poltert man zwischen Bloc Party und At The Drive-In umher und fräst die Boxen des Molotow fast aus der Verankerung. Sound schlecht, Band sehr gut.

Danach beginnt das Warten auf die beste Band des Abends, The Sounds. Bis dahin, im Knust, ist es aber noch eine Weile. Die wird nicht gerade vertrieben mit Tempeau, dem Konglomerat aus "Schauspieler hat doch schon laaaaange vor seiner Karriere Musik gemacht!" Marek Harloff und Ex-Selig-Fontmann Jan Plewka. Harloff mit lächerlichem Zöpfchen und Plewka mit lächerlichem Gestus: "Ey, neulich Nacht konnte ich nicht schlafen. Und da habe ich dieses Liebeslied geschrieben. Ich weiß, das klingt lächerlich, aber holt mal eure Feuerzeuge raus!" Ja, es klingt lächerlich. Die Hütte (Knust) ist dennoch voll.

Schließlich, nach Stunden, spielen The Sounds endlich. Sängerin Maja Ivarsson betritt die Bühne, und einem Typen in Lederjacke direkt neben mir fällt die Kinnlade herunter. Kein Wunder eigentlich, bei diesem blonden Punk, deren Rock eigentlich kein Rock ist, sondern ein Fetzen. Dementsprechend sind die Gesten und Anzüglichkeiten während der Show. Mittelfinger, Speichel, rythmische Sportgymnastik, Andeutung eines männlichen Geschlechtsteils - alles was geht, geht auch. Ist ja auch nicht irgendein Festival, sondern das Reeperbahnfestival. Und auch wenn sämtliche Mitglieder durch die Bank hinter ihrer Frontfrau stehen müssen, was Aussehen und Gestik angeht, überzeugt der Mix aus 80s Wave, 90s Pop und 2000something Electro-Rock durch die Bank. Kein Wunder, bei diesen Hits. Mit einem gütigen Lächeln, einer Menge Schweiß, geschrumpftem Ego und verrauchten Lungen verlasse ich das Reeperbahnfestival. Hat Spaß gemacht.

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Abschließend soll hier noch Detlef Schwarte zu Wort kommen, einer der Veranstalter des Reeperbahnfestivals:

Rückblickend: War das Reeperbahn Festival ein Erfolg?
Ja, das fast durchweg positive Feedback von Gästen, Künstlern und  teilnehmenden Clubs zeigt, dass das Festival inhaltlich und organisatorisch die hohen Erwartungen erfüllen konnte.

Wird es nächstes Jahr wieder ein Reeperbahn Festival geben?
Das steht noch nicht fest. Ich nehme an, dass wir im November soweit  sind, dass wir sagen können, ob es ein zweites Festival geben wird  oder eher nicht.

Ein Luxusproblem hatte der Besucher des Festivals: sich aus 200  Bands die Passenden heraussuchen. Die Zeit war ja knapp. Wäre weniger mehr  gewesen?
Das Festival sollte ein möglichst großes Angebot aktueller moderner  Musik machen. Es ging natürlich weniger darum, dass jeder Gast alle  Bands anschauen sollte. Insofern sollte die große Anzahl an Bands und  Einzelkünstlern für den Gast so gar kein Problem dargestellt haben,  sondern eher die Attraktivität des Festivals steigern, da man als  Besucher eine viel größere auswahl hatte, als bei gewöhnlichen  Festivals.

Welcher Künstler, welche Band war dein absolutes Highlight?  Hattest du überhaupt Zeit, dir Bands anzusehen?
Ich selbst habe jeden Abend einige Clubs besucht, um mir ein Bild zu  machen. Mir persönlich haben dabei v.a. die Konzerte von Sugarplum  Fairy (molotow) und Daniel Cicera (drafthouse) gefallen.

Worin lagen die größten Probleme aus deiner Sicht?
In der Vorbereitung war am schwierigsten, die Idee des Festivals zu  vermitteln und den Fokus der Konzertgänger weg von den Headlinern hin  zu dem großen Angebot weniger bekannter Bands zu lenken. Das würden  wir sicher bei einem nächsten Festival noch verbessern, um noch mehr  Besucher in die v.a. kleineren clubs zu locken. Während des Festivals war es sehr aufwendig, Technik in 20 verschiedenen Locations zu koordinieren und immer das richtige  Equipment zur rechten Zeit am rechten Ort zu haben.

Was war am Erfreulichsten?
Am erfreulichsten war, dass das Festival inhaltlich gut funktioniert  hat, also v.a. die Zusammenarbeit mit den Clubs und Partnern und dass  das Feedback der Leute, die dabei waren, sehr positiv ausfiel.

Interview + Text: Robert Heldner
Fotos: sellfish.de


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