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Radiohead - Live

Heineken Music Hall / Amsterdam

28.08.2006

So klingen Radiohead 2006

Es ist Mai, der Sommer steht vor der Tür. Sie und Er fahren mit dem Zug nach Amsterdam, um Radiohead zu sehen. Das ganze ist nicht einfach nur ein beliebiges Konzert, Radiohead wollen an diesem Abend Songs ihres neuen Albums präsentieren. Eigentlich. Doch dazu kommt es nicht. Fassungslos stehen Norweger, Spanier, Italiener und nicht zuletzt auch Deutsche vor der riesigen Heineken Music Hall, wo einzig ein DIN A4-Zettel davon kündet, dass hier heute nichts passieren wird: „Radiohead canceled“, nicht mehr steht auf diesem Stück Papier. Ein Tourmanager erklärt Fans vor der Tür, dass die Mutter von Schlagzeuger Phil Selway in der Nacht gestorben und die Band nach England zurückgeflogen sei. Ein Engländer zuckt kurz mit den Achseln, er hat Radiohead schon am Vortag gesehen. Sie findet es sogar lustig, Er dagegen überhaupt nicht und muss an das unrühmliche Konzert von Oasis in München denken, dass wegen einer Schlägerei der Band mit anschließendem Gefängnisaufenthalt auch nicht stattfand. Die Gallagers konnte man wenigstens noch hassen, doch Radiohead konnte man selbst nach umsonst gefahrenen 1000 Kilometern nicht böse sein.
Sie und Er fahren also in die Innenstadt, sehen an diesem Abend immerhin noch Sophia, Okkervil River und Architecture in Helsinki im Paradiso und machen das, was alle Touristen in Amsterdam machen. Danach ist es Sommer.

Es ist ein verregneter August, der Sommer ist längst gegangen. Sie und Er fahren mit dem Auto nach Amsterdam, um Radiohead zu sehen. Und dieses mal soll es klappen. Nach dem überaus spannenden Support Deerhoff stehen Yorke (mit 7-Tage-Bart), die Greenwoods und Co. tatsächlich auf der festivalgroßen Bühne der Heineken Music Hall. Das Bühnebild besteht aus mehreren trapezförmigen Leinwänden, auf die Radiohead während ihrer Performance aus verschiedenen Kameraeinstellungen projeziert werden. Das Ihm bereits der Opener „You & And Whose Army“ die erste und einzige Gänsehaut des Konzerts beschert, liegt wohl daran, dass er das „Amnesiac“-Stück nie bewusst wahrgenommen hat. Und natürlich haben Radiohead an diesem Abend auch einen bestechend guten Sound.
Mit „National Anthem“, bei dessen Einstieg Jonny Greenwood holländisches Radio sampelt und dessen Basslauf sich wie ein Tumor für immer im Kopf festgesetzt hat, und „Morning Bell“ folgen bereits zwei Hits vom Geniestreich „Kid A“. Danach schwärmt Er Ihr bereits ins Ohr und macht dabei einen großen Fehler. Sie fühlt sich verletzt, Er merkt es nicht. Das klassische Rollenverhalten.
Es folgt mit „15 Step“ der erste neue Song, der mit Handclaps, simpler Gitarrenmelodie und Yorke’s sprunghaftem Gesang wohl am ehesten auf „Hail To The Thief“ gepasst hätte. Und auch „Arpeggi“ klingt mit fließenden Rhythmik und innerer Dramaturgie wie ein verschollenes Stück aus den Sessions zum letzten Album. Damit scheint die Marschrichtung von Radiohead im Jahr 2006 klar. Gevatter Pop kehrt wieder ein im Hause Radiohead. Oder schaut er doch nur kurz vorbei? Im Anschluss spielt die Band mit dem Soundtrack-Beitrag „Exit Music“ (Romeo & Julia, OK Computer) und „Dollars & Cents“ zwei atmosphärische Stücke, die man sich nicht unbedingt erhofft hatte, sich aber in nahtlos in die Setlist einfügen. Denn die Band aus Oxford kann sich ihre offensichtlichsten Hits mittlerweile sparen. „Creep“, „Just“, „Karma Police“, „No Surprises“, „Pyramid Song“, „2+2=5“ – die Amsterdamer Streichliste ist lang.
Beim anschließenden „Videotape“ spielt Yorke mit dem Rücken zum Publikum Klavier und singt mit winselnder Stimme. Bei Coldplay wäre aus dem Song eine Ballade und eine Top10-Single geworden, für Radiohead ist es nach einmaligem Hören nur ein verschrobener Album-Track. Und auch wenn Yorke an diesem Abend nur belanglose Ansagen liefert, die Art und Weise mit welcher Perfektion die Band im Anschluss den sperrigen Single-Hit „Paranoid Android“ und das hymnische „Street Spirit“ intoniert, sorgt für offene Münder. Beim elektronischen „The Gloaming“ tanzt der Frontmann wie Rumpelstilzchen um das Mikrophon, ehe Radiohead bei „Bangers’n’ Mash“ wie in Interviews angekündigt doch tatsächlich Garagenrock spielen, der aber beim Erstkontakt eher stutzig macht. Keine Single, genauso wenig wie das ruhige „Nude”. „This song was a sweet song and this song is an nasty song“, grunst York und “Myxomatosis” (Hail To The Thief) schüttelt willige Körper durch.

Die größte Überraschung des Abends ist allerdings das Instrumental “Spooks”, das mit Surfgitarren und einer Länge von einer Minute wie eine alternative Titelmelodie zu Pulp Fiction anmutet. Was uns Radiohead wohl damit sagen wollen? Einen Furz ins Gesicht, nicht mehr und nicht weniger.
Das Hauptset endet nach 75 Minuten mit dem lang ersehnten und verspulten „Idioteque“ und „How To Disappear“. „Like Spinning Plates“ macht als erste Zugabe endgültig klar, dass „Amnesiac“ und „Kid A“ an diesem Abend am meisten gewürdigt werden. Der Riff-Rocker „Bodysnatchers“, bei dem sich Yorke unnachahmlich um den Verstand ächzt, ist für Ihn die potenzielle erste Single zum neuen Album und das darauffolgende „There There“ jetzt schon einer der größten Songs des neuen Jahrtausends. „Everything In It’s Right Place“ erscheint danach wie der logische Abschluss eines brillanten Konzertabends.
Erst jetzt treffen sich die Blicke von Ihr und Ihm wieder. Er fragt, was los sei, Sie beschimpft Ihn. Damit ist die Magie des Abends zerstört, Radiohead sind zur Nebensache geworden. Sie und Er schauen sich lange an während die Band zurückkommt und ausgerechnet „Fake Plastic Trees“ anstimmt. Es ist sein Lied für emotionale Achterbahnfahrten, das in diesem Moment zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden ist. Dass die beiden letzten Stücke ausgerechnet „All I Need“ (neu und großartig) und „Lucky“ (OK Computer) heißen müssen, erscheint in diesem Moment wie reine Blasphemie. Zwei Stunden Radiohead haben keine Antworten gegeben, sondern neue Fragen aufgeworfen. Sie beschuldigt Ihn, Er beschuldigt Sie. Die klassische Puttsituation. Am Ende werden sie schweigen, streiten, weinen und letztendlich doch noch miteinander in die Nacht in Richtung Meer fahren. Nur über dieses Konzert werden sie wohl nie wieder sprechen. Schade.
 

Autor: Christoph Dorner


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