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|| Bastian Streitberger ||

schreibt über...

Architecture_in_Helsinki.jpgForward_Russia.jpgRise_Against.jpgAnti-Flag.jpgBen_Kaan.jpgLucky_Jim.jpg


Das Jahr startete genial-verrückt: Architekture In Helsinki schufen mit ihrem Meisterstück „In Case We Die“ ein unglaubliches Dickicht an Klangpirouetten, die das Oktett mit allerhand Instrumenten und Genialität so naiv-schön aufs Parkett legte. Das Band-Selbstverständnis nach der „Wer will noch mal? Wer hat noch nicht?“-Mentalität erlaubt auf dem zweiten Album der Melbourner Combo ein aberwitziges Drunter-und-Drüber-Sammelsurium verschiedenster Stilblüten: Rock, Pop, Hip-Hop, Blues, Jazz, Folk und Elektro mit seltsamen Wave-Schmierereien arrangiert die Big Band des Wahnsinns zwischen Dada und Gaga zu einer australischen Disney-World-Außenstelle der Pop-Kreativität. Mindestens so sympathisch wie durchgeknallt zugleich sind die acht Chaoten auf der scharfen Kante zwischen Genie und Wahnsinn allesamt in die richtige Richtung gestolpert. „In Case We Die“ überrascht von der ersten Minute an mit wilden Tempi-Wechsel, abgefahrenen Bläsereinsätzen, merkwürdigen Sampels, grenzwertig-schizophrenen aber dennoch stimmigen Vocals verschiedenster Couleur und Geschlechterprägung - gerne in Stakkato über den Soundteppich gestreut - und kindlich wirkender Sorglosigkeit bei Einsatz und Umsetzung von friedenstiftenden Choreinsätzen. Im Nachdurst wie ein großer Selbstbedienungsladen aller nur denkbaren Klangquellen, der einen erschöpft und glücklich zugleich mit einem Grinsen im Gesicht in die Plastikbälle des Kinderparadieses zurücksinken lässt.

Noch mal neu, noch mal verrückt: Disco-Punk, Shouts und Glamour-Rock. !Forward Russia! haben all das gemacht - und noch viel mehr. Das Debüt-Album „Give Me A Wall“ bricht Bänne, reißt Mauern nieder und explodiert in einem überbordenden Gebräu aus Gitarren, Synthesizer und kreativem Spuk. Die vier Jungs aus Leeds haben nicht nur keinen Respekt sondern machen daraus auch noch eine Tugend. Punk-Allüren und Stil-Anarchie führen auf „Give Me A Wall“ zur Verschmelzung von Anders und Schön. Beispiel gefällig? Im (äußerst ausladenden) Booklet finden sich keine Angaben zu Vocals - nein, „Shouts“ werden dort ausgewiesen, so ehrlich ist man. Zu einfach wäre es dann wohl auch, den Songs einen klaren Namen zu geben. Auch hier bedient man sich wundersamer wie fragwürdiger Aktionen und betitelt die Songs munter zwischen „Nine“ und „Fifteen pt II“. Konventionell ist anders und das britische Understatement längst dem Mut zum Chaos gewichen. At The Drive-In, nur in flegelhaft: Disco- und Funksysteme, vorangeprügelt durch Punk-Riffs, verkörpert in Shouts mit der Melodieverliebtheit des Emo und der Triebhaftigkeit des Rock´n´Rolls. Schweiß und Rotz trifft Schminke und Lackschuh. Die Vocals stapfen im Stakkato, schneidend, treibend und harmonisch zugleich. Mit dem letzten Rest an Verstand ertränkt in der Ekstase des Augenblicks gelingt !Forward Russia! die Symbiose von The Mars Volta und The Cure in eindrucksvoller und mitreißender Weise. Refrains, die keine sind. Melodien, die brainstormartig auftauchen um zu verschwinden. Songs mit ohne Gerüst als Konzept. Ein Album als Spielwiese der eigenen Kreativität, mit der Erlaubnis für alle, sich darauf zu Tummeln. Den Wahnsinn in Scheibe gepresst.

Ganz andere Richtung und ganz andere Voraussetzungen: Wie beim neuen Album von Rise Against überwog auch diesmal die Sorge, wie die Lieblingsband die man seit ihren Kinderschuhen begleitet, den Sprung auf den Major meistert (verkauft). Doch was die vier Chicagoer dann mit dem Major-Debüt „Siren Songs Of Counter Culture“ im Jahr 2004 abgeliefert hatten, war mindestens so erleichternd wie verdammt beeindruckend. Umso interessanter, was „The Sufferer & The Witness” zu bieten hatte: Rise Against versuchten ihre Musik auf ein nächstes Level zu heben, ohne die eigenen Wurzeln zu verraten oder gar Fans der ersten Stunde zu vergraulen. Auf „Siren Songs Of Counter Culture“ hat sich das schon angekündigt: Der Hardcore-lastigen Hau-Drauf-Menatlität wurde ein diffizileres Songwriting beiseite gestellt: Mehr Kunst in der Stimme, mehr Harmonie in den Chören und dazu die Verquickung von neuen Stilelementen wie Spoken Words, Akustik-Passagen und mellow Parts. Das war die Mischung für Millionen. Der Nachfolger startet mit dem Opener „Chamber The Catridge“, bedient die Fangemeinde und hätte genauso auch drei Jahre früher entstanden sein. Mit dem darauf folgenden „Injection“ zeigen Rise Against wofür sie berüchtigt sind: Melodiöse Songparts flankiert von derben Shouts, mächtigen Hardcore-Riffs während die Stimme von Tim McIlrath wieder auf des Messers Schneide zwischen Abgrund und Erfüllung tanzt. Was aber ist neu? Die Songs wirken aufgeräumter, fast berechnend: Beinahe Emo-artig wird die dunkle Stimmung heraufbeschworen und durch melodische Refrains untermauert. Clean: ja, ohne Seele: nein. Mein großer Respekt also vor den vier Jungs, die zwar kein erneutes Standard-Werk des HC/Punkrock-Genres geschaffen haben, aber immerhin eine gelungene Weiterentwicklung als Band vollzogen haben. Zudem haben Rise Against mit dem gigantischen „Prayer Of The Refugee“ den Hardcore-Ohrwurm dieses Jahres geschaffen.

Und gleich noch mal Major-Singning und seine Folgen: Die Mittelfinger-in-die-Luft-Mentalität war sicherlich die richtige Einstellung mit der die vier Jungs von Anti-Flag auf entsprechende Bedenken reagiert haben. Aber die ersten Auswüchse wurden ebenfalls deutlich: Anti-Flag als everybody´s darling - und deren fundamental-inspirierte Haltung wurde zur allgemeinen Attitüde erhoben, Konzerte werden beherrscht von Fangruppen, die sich wohl mehr mit ihrem Handy-Guthaben als mit den Aufgaben der WTO beschäftigen und bei Amazon kündeten Kundenrezensionen schon vom „absoluten Muss“ mit „Abgeh-Faktor“. Okay, dass wir uns da nicht falsch verstehen: Genau das war auch im Sinne der Band, aber irgendwie war mit dieser Karrierefolge auch eines zu erahnen: Die Leichtigkeit war dahin! So einfach lässt sich „For Blood And Empire“ zusammenfassen. Die Parolen kommen zwar weiterhin in der bandeigenen Wahnsinnsmischung aus Knaller-Riffs und grandiosen Sing-A-Longs - aber eben ohne die bekannte Unbeschwertheit. So gesehen war bei „For Blood And Empire“ tatsächlich eine neuerliche Steigerung zu erkennen: Songs wie „Confessions of an economic hit-man“, „Press Corpse“ oder „The W.T.O. kills farmers“ stellten erneut eine - nicht für möglich gehaltene - Weiterentwicklung zum Vorgängeralbum dar, auch wenn die Sorglosigkeit einem gewissen Verantwortungsbewusstsein gewichen zu sein schien. Bei all den neuen Bewunderern werden nämlich oft genug Alben wie „Die For The Government“ oder „A New Kind Of Army“ vergessen, auf denen sich einfach vier Jungs aus Pennsylvania ihre Ängste und Sorgen mit mächtig Wut von der Seele gespielt haben. Glücklicherweise ist „For Blood And Empire“ auf einem so hohen Niveau, dass diese Makel nicht wirklich ins Gewicht gefallen sind.

Ganz andere Jahreszeit, wieder ganz andere Richtung: Dieser Herbst bescherte uns eine Vielzahl an Singer/Songwriter-Neuentdeckungen: Ben Kaan zum Beispiel rannte mit seinem Debütalbum offene Türen ein: „Zuhause Wohnen“ wurde von der ersten Note an zu meinem Freund und Begleiter. „The Extrovert Album“ lautete der Untertitel und umschreibt so selten perfekt die Art von Musik, mit der uns der erst 22-jährige Ben Kaan seine Freundschaft, seine Gedanken, sein Leben darbot. Gitarren-Pop, der reduziert aber dennoch hymnenartig wirkt und mit allerlei fortgeschrittenen Tricks des Singer/Songwriter-Handwerks ganz oben in der Liga spielt. Chöre, Mundharmonika, Blasinstrumente - Element Of Crime, Tomte, Blumfeld, die trübe Phase von Beck, alles - aber eben in der persönlichen Art von Ben Kaan, die uns nahe und unter die Haut geht - ganz ohne Mitleid erwecken zu wollen. Eher seltsam behaglich, dass jemand die Spannung und Atmosphäre der Herbststimmung in Worte und Töne packen konnte. Mal ganz auf die Wirkung der Worte bedacht, manchmal metaphernschwere Bedenkenträger, so setzen sich die zehn klasse produzierten Songs zusammen. Eine Mischung, die in ihrer geschickten und unbeschwert-naiven Inszenierung aus Gitarren, Stimme und Tempowechseln mitzureißen vermag. „Zuhause Wohnen“ tanzte so auf einem höchst harmonischen Spannungsbogen zwischen verhalten tröpfelndem Weltschmerz und durchschimmernder Lebensfreude. Ben Kaan hat mit zurückhaltenden Worten und Tönen ein sehr bemerkenswertes Album geschaffen, das sicher Teil von jedem werden dürfte - und uns durch die Zeit bringt.

Lucky Jim trafen mich mit ihren elf Songs im schwächsten Moment aus letzten Sonnenstrahlen und erster Wintermelancholie. Mit „All The Kings Horses“ hat das Duo um den gebürtigen Edinburgher Gordon Grahame ein intensives und tragisch-schönes Singer/Songwriter-Album geschaffen. In den ersten Takten wirkt das Album von Lucky Jim noch seltsam-beschwingt, aber die Grundintonierung ist eine ruhige. Mit schiefen Vocals im Refrain startet „Sophia“ und wirkt dabei etwas verschroben, aber in seiner Authentizität auch sympathisch. Mit viel Herzblut und tragischer Instrumentierung trafen hier Damien Rice auf die Bright Eyes oder Neil Young auf die Weakerthans, dazu ein bisschen Richard Ashcroft, ein bisschen Johnny Cash. All das ist Lucky Jim, die in bester Singer/Songwriter-Tradition die Songtexte in den Vordergrund stellen und diese mit der Idee einer Melodie und gewähltem Instrumenteneinsatz eine Symbiose eingehen lassen. Die Instrumentierung ist relativ zurückhaltend gewählt, aber mit Percussions und Keyboard wird diese einzigartige Stimmung erzeugt, die „All The Kings Horses“ zu einem so herzergreifenden Erlebnis macht. Die Stimme spiegeln das Seelenleben wieder, vielleicht auch mal etwas schief - aber das mehr als Methode als nachteilig. So fügt sich das Puzzle aus Vocals, Instrumentierung und Inhalten zu einem großen Ganzen: Die Themen Liebe und Verlassenwerden werden in ihrer Traurigkeit zelebriert, Songs wie „Ash“, „Don Quixote“ oder „Dear Brother“ rühren zu Tränen und nehmen einen gleichzeitig an der Hand. Bei solchen Bands möchte man nur danken, dass Leute da draußen unsere Emotionen so perfekt einfangen und in Worte und Noten fassen können. Der perfekte Abschluss eines mit allerlei Schönheiten und Überraschungen gespickten Musikjahres. Und mal wieder kein schlechtes - da sind wir doch jedes Jahr wieder aufs Neue überrascht.

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