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Labelportrait: Glitterhouse

Trüffelschwein-Qualitäten


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Rembert Stiewe

Musiknerds und ihre kreativen Auswüchse: Vom Fanzine zum Mailorder zum Label und zurück. Reinhard Holstein und seine Kollegen haben alle relevanten Stationen mitgenommen - und sind nach über 20 Jahren mit den beiden letztgenannten mehr denn je aktiv. Längst muss man Glitterhouse als „seriöses Unternehmen“ titulieren. Dass die mittlerweile gut eine handvoll Beteiligten aber nach wie vor mit der gleichen Liebe ans Werk gehen wie in den Gründerjahren, macht sich nicht nur in dem im Monatsrhythmus akribisch zusammengestellten Mailorderkatalog oder dem hauseigenen „Orange Blossom Special“ Musikfestival fest. Nein. Denn mag die „Ur-Besetzung“ für die im Jugendwahn lebende Musikbranche mittlerweile längst tatsächlich „ur-alt“ sein: Bei der Auswahl ihrer Veröffentlichungen zeigt man sich nach wie vor ebenso neugierig wie experimentierfreudig.

Wegbegleiter während dieser ungewöhnlichen Karriere waren beispielsweise 16 Horsepower, die Walkabouts oder relativ neu: Seachange. Und natürlich das Seattler Sub Pop Label, welches klare Spuren in der Geschichte von Glitterhouse hinterlassen hat. Doch gerade neben den großen und größeren Namen finden sich im Repertoire jede Menge dieser kleinen Perlen, nach welchen man als Musikliebhaber mit Gitarrenleidenschaft so unermüdlich sucht.

Der jüngst erschienene Re-Release des "Declaration of Fuzz" Samplers aus den Anfangstagen von Glitterhouse war willkommener Anlass für sellfish.de, mit Co-Begründer Rembert Stiewe die einzigartige Historie der Institution aus dem kleinen Städtchen Beverungen einmal näher zu beleuchten.


Stiewe: Warte, ich mach mal kurz die Musik aus.

Was lief denn gerade?
Stiewe: Die neue Washington. Kommt erst im März raus und ich höre sie gerade zum ersten mal. Schön gefühlig, wie die erste ja auch, aber noch ein stückweit mehr zugänglicher. Wie üblich machen wir uns wieder Hoffnung, dass jedes Frauenmagazin darauf abfährt.

Habt ihr den Geburtstag von "Declaration of Fuzz" irgendwie gefeiert?
Nein, die Wiederveröffentlichung war ja schon Feier genug. Es wurde halt allerhöchste Eisenbahn, dass wir den Schatz mal wieder hervorkramen. Reinhard Holstein hatte im Netz gesurft und zufällig entdeckt, dass da jemand das Vinyl-Album digitalisiert hatte und nun unter die Leute brachte. Ist natürlich eine Frechheit. Aber wir dachten uns: was der kann, können wir schon lange. Außerdem ist der Sampler ja sogar schon 22 Jahre alt. Aber aus marketingtechnischen Gründen haben wir es dann als Jubiläum ausgegeben. Das zeigt aber auch nur wieder, wie schwer die eigentlichen Anfänge von Glitterhouse zu terminieren sind. Ist nun das Fanzine "The Glitterhouse" der eigentliche Ursprung, als wir den ersten Tonträger herausgebracht haben oder als wir eine Gewerbe angemeldet haben. Da lagen teilweise Jahre dazwischen. Deshalb können wir jetzt ein paar Jahre lang ständig Jubileen feiern.

Gehen wir mal zu den Anfängen von Glitterhouse zurück: seid ihr das gewesen, was man heute als Musiknerd bezeichnen würde?
Auf jedenfall! Ein Anzeichen von Nerdtum ist ja, dass man sehr viel Freizeit opfert, um wie verbissen irgendwelche Platten zu bekommen, bestimmte Bands zu kontaktieren oder ewig zu reisen, nur um eine Band Live zu sehen. Das alles war ja damals, Anfang der 80er, wesentlich schwieriger als heute. Es gab kein Internet, kaum Musikzeitschriften, die ganze Infrastruktur war noch gar nicht ausgebildet. Selbst die Vertriebsstrukturen von Independent-Musik waren schlecht ausgebaut. Es war schwierig, an viele Platten überhaupt heranzukommen. Dafür war man dann aber umso stolzer, als man sie dann hatte. Also Nerds waren wir definitiv, sind wir ja aber heute immernoch. Man hat zwar noch andere Interessen neben der Musik. Aber wenn wir keine Fans wären, hätten wir wahrscheinlich schon längst aufgegeben.

Ihr seid auch nie weg aus Beverungen?

Nein, dafür gab es ja auch nie einen Anlass. Als unsere Freunde alle weggezogen sind, da waren wir schon knietief drinnen in Glitterhouse. Ich will es mal so ausdrücken: wenn ich bei einer Versicherung arbeiten würde, wäre ich hier sicherlich nicht geblieben. Aber so konnten wir die angenehmen Seiten des Landlebens genießen. 

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Reinhard Holstein

Das stelle ich mit konzerttechnisch schwierig vor, damals wahrscheinlich noch mehr als heute.
Ja, man musste weit fahren. Als wir mit unserem Fanzine anfingen, war ich noch keine 18 Jahre alt und Reinhard der einzige mit Führerschein. Den hatte er aber ziemlich bald durch ein Alkoholvergehen wieder verloren. Man musste damals immer nach Enger, das Forum, wo praktisch jede Band gespielt hat, die wir geil fanden. Bloß musste man immer 1 3/4 Stunden fahren, bis man da war.

Wie seid Ihr da eigentlich auf die Idee gekommen, ein Fanzine zu gründen?
Auf die Idee kam Reinhard, nicht ich. Wir hatten uns durch Zufall kennen gelernt, weil unsere damaligen Freundinnen Schwestern waren. Auf einer Familienfeier war das. Wir saßen nebeneinander, kamen ins Gespräch und mussten uns plötzlich wundern, dass es da ja im Dorf noch einen gab, der auf gute Musik stand und eine rießige Plattensammlung besaß. Seine war natürlich wesentlich größer als meine, weil er einige Jahre älter war. Naja, jedenfalls meinte er: "Du, ich mach da jetzt so ein Fanzine, willst du nicht mitmachen." Und ich fragte bloß: "Was ist denn ein Fanzine?" "Das ist ein Musikheft von Fans für Fans. Kannste auch eins haben. Ich hab 25 gemacht und noch sechs übrig!" Naja, und bei Nummer 2 bin ich dann eingestiegen. Das war aber nicht so zeitaufwändig, wie man vielleicht denken könnte. Da lag teilweise ein Jahr zwischen den Veröffentlichungen. Außerdem haben wir uns jedes Album vorher gekauft, das wir besprochen haben! Das sollten sich Fanzines heutzutage mal hinter die Ohren schreiben. Für uns war das eine Art naiver Stolz auf Unabhängigkeit.

Hattet ihr Fanzine-Vorbilder?
Ein paar schon. Bucketfull of Brains zum Beispiel. Die gingen auch noch weit mehr in die Tiefe als The Glitterhouse. Fast schon akademisch. Aus den Staaten gab es natürlich auch ein paar. Das legendäre Bomp von Greg Shaw gab es auch, das sich fast ausschließlich mit 60s Bands beschäftigte. Da lagen ja auch unsere Vorlieben. ALso abgeschaut hat man sich bestimmt etwas, aber in erster Linie wollten wir schnoddrig schreiben. Wie es sich für ein echtes Fanzine ja auch gehört.

Und wie gings dann langsam mit dem Mailorder los?
Naja, wir merkten halt, dass es furchtbar schwer war, an neue Platten zu kommen. Wenn du die neue Fuzztones haben wolltest, musstest du die in New York bestellen. Das war natürlich irre aufwendig, mit Bargeld verschicken, Zollgebühren usw. Da dachten wir uns: das wäre doch super, wenn wir uns in Deutschland als Zwischenhändler einschalten würden. Wir haben ganz klein angefangen und Kassetten von Bands importiert, die keiner kannte. Und weil wir in unserem Fanzine darüber schreiben konnten, haben sich unsere Bestände eigentlich immer verkauft. Naja, und irgendwann fragten dann Bands an: "Hey, wisst ihr nicht jemanden, der unsere Band in Europa vertreiben möchte?" Da gab es ja kaum etwas. Und deshalb dachten wir: so schwer kann das ja gar nicht sein, machen wir es eben selbst. Das war aber gar nicht so einfach, wir hatten ja keinen Schimmer, wo man überhaupt Platten pressen lassen kann. Da schnappte man sich dann halt die Gelben Seiten, rief bei einem Presswerk an und fragte, wie man denn nun eine Platte macht. Da haben die sich natürlich kaputt gelacht. Aber letztlich klappte es dann doch und wir haben von "Declaration of Fuzz" immerhin 3000 Stück verkauft.

Und wie wurde aus dem Hobby dann Broterwerb?
Das war, als Sub Pop in unser Leben getreten ist. Da muss man Reinhard ja echt Trüffelschwein-Qualitäten zusprechen. Der laß nämlich in irgendeinem Magazin etwas von "Green River", eine der Keimzellen-Bands von Seattle damals. Er wollte sowieso in den Urlaub mit seiner Freundin, reiste also nach Seattle. Und rief mich eines Tages atemlos an: "Mensch, das gibts nicht, hier hast du jeden Abend die Auswahl an zehn verschiedenen Konzerten. Seattle explodiert gerade." Und da ist er zu Sub Pop gegangen, die damals auch noch in so einer Klitsche gehaust haben wie wir selbst, und fragte: "Hey, wir haben in Deutschland ein Label und würde gern eure Musik für Europa lizensieren!" Und die haben sich irre gefreut. Also haben wir Bands wie Green River und Blood Circus auch in Europa herausgebracht. Dummerweise hatten wir nie Nirvana, weil wir keinen Exklusiv-Deal hatten. Da war irgendein Engländer schneller. Also hatten wir die etwas erfolgloseren Bands gemacht. Aber dafür fast den gesamten Sub Pop Katalog. Zumindest solange, bis Warner dann irgendwann kam und mit einem ganz dicken Scheckbuch gewunken hat.

Hattet ihr auch Dollarzeichen in den Augen, als Seattle weltbekannt wurde?
Nein, wir haben immer alles gleich in die nächsten Pressungen investiert. Außerdem haben sich Bands wie Mudhoney zwar 30.000fach verkauft. Aber nach Major-Maßstäben waren das natürlich Peanuts. Bei uns ist also nie jemand reich geworden damit.

Und dann, Mitte der Neunziger Jahre, kam plötzlich die Wende bei Glitterhouse. Und das, nachdem ihr Sachen wie Mudhoney und Helmet veröffentlicht hattet. Wie erklärst du den Stilwechsel heute?
Genau genommen hatten wir ja schon viele Stilwechsel. Erst 60s Kram, wie man auf der Declaration of Fuzz hört, dann Grunge-ähnliche Bands, dann so kranke Bands wie Helmet. Und dann entdeckte Reinhard irgendwann seine Singer/Songwriter-Ader. Ich war da am Anfang noch skeptisch. Aber man wird Älter, irgendwann kann man sich ständigen Krach einfach nicht mehr anhören. Und weil sich Sub Pop gerade Richtung Warner verabschiedet hatte, haben wir etwas gemacht, das man heute als "Relaunch" bezeichnen würde. Unter kaufmännischen Aspekten haben wir es natürlich wieder übertrieben und alles rausgebracht, was wir toll fanden.

Wieviel Idealismus tauscht man im Laufe der Zeit eigentlich gegen ein Kosten/Nutzen-Kalkül ein?
Ich glaube nicht, dass man den Idealismus gegen irgendetwas eintauscht. Der scheitert einfach an den Realitäten. Wir können heute natürlich weiß Gott nicht all das herausbringen, was uns gefällt. Da wären wir schon lange pleite. Man hangelt ja sowieso immer am Rande der Zahlungsunfähigkeit entlang. Ich möchte es anders ausdrücken: der Idealismus ist nicht flöten gegangen. Wenn wir eine Band unter Vertrag nehmen, gehen wir nicht anders mit denen um als früher. Wir sind jetzt eher an den Marktrealitäten geschult und können die Grenzen besser abstecken. Das ist für einige Bands dann natürlich erstmal ein Schock, wenn wir ihnen sagen, dass sie in Europa 1.300 Stück verkaufen werden. Klar haben wir Bands wie die Walkabouts, 16 Horsepower, Woven Hand. Und Glitterhouse hat auch einen guten Namen. Aber wenn man mal auf die nackten Zahlen sieht, was so eine Band heute noch verkauft, da kann man nur noch lachen. Was einem dann im Hals stecken bleibt. Also muss ich dir insofern recht geben, dass der Idealismus leidet, weil die Realität so traurig ist.

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Die semi-legendären The Chosen Monks. Mitte unten: Holstein, darüber: Stiewe

Also ist das arbeiten bei einem Label heute ein Himmelfahrtskommando?
So krass würde ich es sicher nicht ausdrücken, aber klar, wir spüren die Auswirkungen von illegalen Musikdownloads und CD-Brennern auch hier ganz gehörig. Neulich fragte mich ein Kumpel, der eine Mercedes-Werkstatt hat und auch damit handelt, wie es denn bei uns hier geschäftlich so läuft. Und ich sagte ihm: "Stell dir vor, man könnte sich für 100 Euro ne S-Klasse aus dem Internet ziehen. Wieviel würdest du da noch verdienen?"

Ihr vollzieht gerade auch wieder eine Wende, oder sehe ich das falsch? Mit Seachange und Lampshade zum Beispiel kehrt ja der jüngere Indie-Rock zurück.

Ich würde es nicht als Wende bezeichnen, weil wir ja nicht nur noch sowas veröffentlichen wollen. Wir erweitern das Spektrum einfach wieder. Und das mit Seachange ist natürlich super. Die waren ja am Anfang ziemlich skeptisch und wollten nicht so recht bei Glitterhouse unterzeichnen, weil sie meinten, unser Publikum sei zu alt. Da mussten wir sie erst mühsam überzeugen, dass es das klassische Glitterhouse-Publikum gar nicht mehr gibt. Und jetzt sind sie ziemlich zufrieden. In Deutschland laufen die ja auch super.

Und die Escapologists wolltet ihr nicht haben?
Die Frage musste ja jetzt kommen. Ne, also bis heute erschließt sich mir deren Platte nicht. Ich mag das, was sie machen. Aber so richtig gepackt hat es mich nicht. Aber ich bin froh, dass sie mit DevilDuck doch ein Label gefunden haben, das ein richtig gutes Programm hat.

Letzte Frage: Wie würdest du deine Beziehung zu Reinhard Holstein seit Beginn beschreiben?
Hm, das hat ja noch nie einer gefragt. Also bin Freund und Trauzeuge. Aber neben der Arbeit machen wir kaum noch etwas zusammen, was vor allem daran liegt, dass er sechs Kinder hat und ich am liebsten in der Kneipe und mit Kumpels rumhänge. Aber die Frage zielt wahrscheinlich auf etwas anderes ab: die Symbiose aus Freundschaft und Arbeitsverhältnis ist natürlich nie ganz problemlos. Da ist es manchmal schwieriger, eine unpopulärer Entscheidung bei einem Freund durchzubringen als bei einem Angestellten. Andererseits ist das bei Reinhard nie so das Problem, der ist so weich. Außerdem sind wir nicht die Typen für ausufernde Streits.  

Interview: Robert Heldner
Text: Michael Streitberger
Fotos
: Glitterhouse


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