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Immergut Special #2

Juli 2005

Wir sehen unmöglich aus, wir sind der Zeit voraus!

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wegweisend - das Festival mit dem Euter

„Wir sehen unmöglich aus, wir sind der Zeit voraus“, schallt es über das ganze Gelände des Immergut Festivals. Es ist Samstag kurz nach halb neun Uhr abends. Kante spielen und ich schlendere über den Zeltplatz. Die Textzeile passt besser denn je. Um mich herum lauter Gesichter, die nach zwei bzw. drei Tagen Festival ganz schön durch aussehen. Unmöglich eben, aber doch auch irgendwie gut. Die Sonne scheint, dass es eine Pracht ist und trotzdem ist es jetzt Zeit die Klamotten zu wechseln, weil sich später die Kälte unaufhaltsam ihren Weg bahnen wird.

Jede Menge Höhepunkte gab es auch beim sechsten Immergut Festival wieder zu bestaunen. Neben, aber vor allem auf der Bühne. Donnerstag Abend sind wir angekommen und haben seit dem mehr als nur eine gute Band gesehen, mehr als zwei Bierchen getrunken und weniger als sechs Stunden geschlafen. Die richtige Festival-Kombination eben.

Was den besonderen Reiz dieses Festivals ausmacht, lässt sich wohl in einem Satz nicht beantworten. Es ist die Mischung aus verschiedenen Faktoren, warum das Immergutrocken im Vergleich zu anderen Festivals sympathischer rüberkommt. Es hat unter anderem damit zu tun, dass sich hier auf dem Zeltplatz nur ca. 5.000 Menschen tummeln, nicht Zehntausende wie bei den großen Adressen. Aber das ist nur eine Voraussetzung, kein direkter Grund, warum hier alles etwas netter ist. Den Ordnern merkt man zum Großteil an, dass sie ihren eigentlichen Auftrag verinnerlicht haben. Das Publikum ist nicht nur zum Trinken und Feiern da, die Musik steht immer noch im Mittelpunkt. Die Ticketpreise liegen deutlich unter dem Durchschnitt und mit Neustrelitz hat man einen Ort gefunden, der zwar nicht gerade den Mittelpunkt Deutschlands darstellt, dafür aber nur wenige Kilometer von Berlin entfernt ist und wunderschön in die Seenplatte von Mecklenburg-Vorpommern eingebettet ist.

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sun all over the place

Wie von Zauberhand ist auch dieses Jahr das perfekte Wetter wieder punktgenau anwesend. Der blaue, wolkenlose Himmel fordert den regen Gebrauch von Sonnencreme und die Badeseen ziehen die verkaterten Opfer der Nächte an, wie unser Schweiß die unzähligen Stechmücken. Sogar Neustrelitz selbst habe ich dieses Jahr gesehen, dafür aber leider Immergutzocken das Fußballturnier verpasst.

Die Organisatoren haben sich wieder mächtig Mühe gegeben. Der grün-weiße Einheitslook dominiert Wegweißer, Festivalmagazin, den eigenen Sampler und die schicken Buttons, die man am kleinen Pressestand erwerben kann. Besonders nachts entfaltet hier so manches erst richtig seine Wirkung; ich streife am Labelzelt vorbei und bewundere die Leinwände, auf die Festivalauftritte projiziert werden. Was tagsüber noch spröde, weiße Ständer mitten am Gelände waren, sind jetzt kleine Freilichtkinos und während daneben zwei Betrunkene Arm in Arm lachend in die Wiese fallen, erklingen vor mir die letzten Töne von Moneybrother, der den Freitag auf der Hauptbühne beschließen darf. Der letzte macht die Lichter aus und den Mond an.

Die Puppetmastaz sind die letzten auf der zweiten Bühne und nach dem doch etwas monotonen Auftritt wird das Zelt in eine ausgelassene Disko verwandelt. Besonders an dieser Stelle zahlt es sich aus, dass Intro und Spex das Wochenende mitgestalten und hier auch ordentlich Hand an den Plattenteller legen. Bis in die frühen Morgenstunden wird gerockt, was die Bodenbretter hergeben. Irgendwann stolpere ich aus Versehen auf der Suche nach einer Kopfschmerztablette in den Bereich hinter der Bühne. Manche nennen das backstage, ich finde der Begriff klingt zu abgehoben und ist hier nicht angebracht. Roman Fischer hat keine Tablette für mich, auch wenn ich ihm das nicht glaube, dafür aber Suzie Kerstgens, die nette Sängerin von Klee. Und so klingt der erste Festivaltag aus und findet sein Ende in einem Zelt, das nicht meines ist, aber zumindest in der Nähe von meinem steht. Ein Anfang - auch wenn die folgenden zwei Stunden Schlaf definitiv zu wenig sind - für das was da Samstag noch kommt.

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we think they are The Robocop Kraus

Am nächsten Morgen wird am Zeltplatz noch mal untereinander besprochen und gefachsimpelt: Welche Bands man gesehen hat, wen man verpasst hat und wo denn der andere plötzlich gewesen ist, als im Diskozelt die neue Gorillaz-Single gespielt wurde. Zusammenfassend kann man sagen, dass The Robocop Kraus den besten Auftritt des Tages hingelegt haben. Perfekt ausgewogen war das Set aus neuen und alten Stücken, eine Zugabe hatte das Publikum gefordert und ausnahmsweise sogar bekommen, eine echte Rarität auf Festivals. Traumstart in die Festivalsaison auch für die fünf menschgewordenen Diskokugeln.


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Seattle 1991 - die Frisur hält

Auch absolut begeisternd der Auftritt von Nada Surf. Eins der seltenen Gastspiele dieses Phantoms der Musikszene und so was von überzeugend und passend an diesem Abend, dass es da später der eigentliche headliner Moneybrother fast schwer hatte mitzuhalten. Mit vielen Songs ihrer beiden Erfolgsalben „The Proximity effect“ und „Let go“ konnten Nada Surf nur gewinnen und deshalb war es leichtes Spiel für die drei Amerikaner neue Songs vom kommenden Album einzustreuen. Wahnsinn diese Typen, fast unverändert, betrachtet man alte Bandfotos. Der Bassist sieht aus, als hätten sie ihn direkt aus einer Zeit namens ‚Grunge’ geholt und wie geil der Kette rauchen kann und gleichzeitig Bass spielt, so gut sieht das sonst nur bei Olli Koch von Tomte aus.



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6 Herren und 5 Fernseher

Auch grandios die Belgier von Girls in Hawaii, die mal wieder alles mobilisierten, um Ohren und Augen zu verwöhnen. Atemberaubende Atmosphäre im Zelt und ein zeitweise sprachloses Publikum. Zu Recht kann man diese Band zu den Gewinnern des Wochenendes zählen.
Eröffnet wurde der Freitag ebenfalls durch einen Belgier, dessen Projekt Styrofoam konnte bereits ganz besondere Fans gewinnen. Ben Gibbard (Death Cab For Cutie) arbeitete beim neuen Album mit und der Auftritt des humorvollen, bebrillten Mannes bestätigte alle Fürsprecher.

Timid Tiger konnten gefallen, boten eine bunte Show, die zum Grinsen und Tanzen animierte und manchmal zwar nah an der Schmerzgrenze vorbeirauschte, insgesamt aber trotzdem die positiven Aspekte in der Mehrzahl hatte.
Mehr Freunde haben sicher auch Koufax gewonnen; angetrunken rockte man sich in die Beine und Herzen der tanzenden Zuschauer, schade nur dass der Sound nicht ganz mithalten konnte.
Selbiger war auch das Sorgenkind beim halbstündigen Gastspiel von Last Days of April. Mal war der Ton ganz weg, dann knallte und rauschte es und trotzdem darf dies nicht als Entschuldigung gelten, warum dieser Auftritt zu einer großen Enttäuschung wurde. Vom ersten Song an herrschte auf der Bühne unverständlicherweise schlechte Laune und so hielt sich auch der Applaus in Grenzen. Schade, denn gerade diese Truppe aus Schweden hätte sich an diesem Tag aus ihrem Geheimtipp-Dasein befreien können.

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Monta
aka Tobias Kuhn und seine Mitmusiker spielten dagegen gewohnt überzeugend und mindestens so berührend. Ein Highlight jagte also das andere und somit war es eine einfache Mission, möglichst viele Bands zu sehen.


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Start in einen neuen Tag

Samstag ist meistens der Tag, wo ein Großteil der Zeltplatzbewohner schon gewaltig am Stock geht, nur wenige laufen dann erst zur Höchstform auf. Wenn Nachmittag gegen 15 Uhr die ersten wieder aufs Festivalgelände kriechen, geht es oft auch mehr um Nahrungsmittelbeschaffung, denn um Musik. Auf wenigen Quadratmetern Schatten werden schlechtgebratene Würste und andere Spezialitäten vernichtet, der ein oder andere sitzt mit großen Augen und langsamen Blick vor einem Becher Wasser und andere beginnen auch diesen Tag mit einem kühlen Becks.

Florian Horwath und Angelika Express haben es schwer; sie machen den Anfang auf der Hauptbühne und es will nicht so recht Stimmung aufkommen, aber so ist das ja immer, egal auf welchem Open Air. Allerdings tun auch beide nicht wirklich viel dafür, neues Publikum zu gewinnen. Florian Horwath versteht niemand so recht und Angelika Express... schwer ist das mit denen, da scheiden sich wohl die Geister, die mag man oder kann sie nicht leiden, dazwischen ist nicht viel. Seidenmatt eröffnen die zweite Bühne und es überrascht, dass sich doch zahlreiche Leute in das stickige überhitze Zelt wagen. Instrumental-Prog-Rock ist das und gar kein schlechter. Trotzdem vielleicht etwas zu schwer für die Uhrzeit. Die Labelkollegen von Kate Mosh haben es da später schon etwas einfacher und liefern einen der überzeugendsten Auftritte ab. Packender Indierock für Fortgeschrittene. Nicht nur die Band wird dabei von Heuschnupfen geplagt, auch vor der Bühne sind die Spielpausen von heftigem Niesen geprägt.

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musizierende Hamster

Jede Menge Wellen der Begeisterung haben die Durchstarter Madsen geschlagen. Fast ein bisschen zu viel des Hype, auch für die Band. So empfindet man das zumindest, als die fünf Herren sich durch den späten Nachmittag rocken und schreien. Kurzzeitig war unklar, ob sie überhaupt spielen würden, mussten sie doch einige Clubshows wegen einer Grippe absagen. Doch sie haben sich pünktlich auf die Bühne gekämpft und sind sehr bemüht allen Lobhymnen gerecht zu werden. Das ist auch nicht ganz einfach, wenn man im Vorfeld von Thees Uhlmann geadelt wird, das Debutalbum gleich beim Major erscheint und man dann gleich der kritischen Indiebevölkerung vorgesetzt wird. Die Grippe steckt immer noch ein bisschen in der Band, beim ersten Lied, geht eine Gitarre kaputt, Madsen-Kopf Sebastian gibt alles und man leidet fast etwas mit bei den verkrampften Ansagen. Hoffentlich ist diese Band keine Totgeburt, denn im Sänger und Songschreiber steckt kostbares Potential, dass vielleicht nur noch etwas Zeit braucht - oder eine andere Band.

Zeit brauchen die Punkrock-Opas von den Boxhamsters sicher nicht mehr. Sie wirken exotisch auf diesem - von Indierock geprägten - Festival. Sie spielen wie immer und sie sind immer gut und vor allem wichtig. Pogo macht sich vor der Bühne breit, während andere fast andächtig lächelnd daneben stehen und wissen, dass sie hier deutsche Musikgeschichte sehen.

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mit Kante in eine andere Welt

The Album Leaf, Ms. John Soda und Kante sorgen für den filigranen Teil des Tages. Auch wenn es noch etwas zu früh und zu hell ist, die medienscheuen Album Leaf zeigen einen großen Auftritt. Jedes Detail stimmt, jeder Handgriff sitzt. Einmal Amerika - Island - Neustrelitz und zurück. Eine Weltreise, eine Zeitreise für den Kopf und das Herz. Die Band beeindruckt, berührt und macht einfach den kompletten Eindruck, den man Last Days of April auch gewünscht hätte.
Mit Ms. John Soda ist auch dieses Jahr so ein bisschen The Notwist vertreten. Das Zelt bebt unter diesem grandiosem Bassspiel und Kante überraschen ebenfalls positiv. War man doch vorher etwas skeptisch, ob das was bei normalen Konzerten wunderbar funktioniert auch auf einem Festival klappt. Das Zusammenspiel aus unzähligen Instrumenten, langen sphärischen Songs und eben die ganze Palette, die Kante bieten können. Tatsache: Sie können und das besser als gedacht. Eine besondere Wirkung erzielt der Auftritt, wenn man etwas aus der Zuschauermasse tritt, die Stimme durch ein Echo von irgendwo zurückkommt und man wieder einen dieser glückseligen Momente in sich trägt.

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that's enuff - I can't take anymorr

Mit großer Vorfreude tummeln sich anschließend ganz viele Menschen vor der Hauptbühne. Maximo Park sind aktuell nicht nur der heißeste Scheiß, sondern auch zurecht der heißeste Scheiß. Ein Meisterwerk von Album und eine gelungene, mitreisende Bühnenshow. An Coolness kaum zu überbieten. Alles ist in rot getaucht und die Hits reihen sich aneinander; „apply some pressure“ oder „the coast is always changing“ zünden, als wären es jetzt schon Klassiker. Nur die lästigen Crowdsurfer nerven nach und nach gewaltig.

Was viele nicht wissen oder viele nicht glauben wollen, ein absolutes Highlight wartet noch im Zelt auf die Leute. Von vielen ignoriert, weil vorher schon abgeschrieben, nach dem Motto: „Was soll denn eine Hip Hop Band auf dem Immergut?“ Wer Ahnung hat, weiß dass Deichkind vielmehr als nur eine Hip Hop Band sind. Und sie beweißen es uns, in dem sie das Zelt zum völligen Ausflippen bringen. Ohne Pause, ohne Limit rocken die Nordlichter die Zuschauer zu Brei. Manchmal klingt das fast schon nach Mediengruppe Telekommander und oft eben einfach nach Deichkind style. Das kickt, würden andere sagen, ich sage das rockt ohne Ende. „Was sie hier auf einem Indie-Festival zu suchen haben“, wurden sie vorher gefragt und sie geben uns die Antwort mit vollem Körper- und Verbaleinsatz. Vielleicht die größte Überraschung des Wochenendes und sicher unter den Top5 Auftritten.

Dagegen können die Schweden von Melody Club danach nur noch verlieren. Die Glamrockband bietet allerdings auch wirklich eine eintönige Show und zum ersten und einzigen Mal, fragt man sich bei einer Band, was sie hier zu tun hat. Klar die ersten Reihen im Publikum nehmen jetzt auch das mit, die Stimmung muss ja noch ins Diskozelt gerettet werden. Auch logisch, dass die eigentlichen Headliner an diesem Tag Maximo Park sind und dieser Auftritt mehr als Rausschmeißer dient, aber irgendwie hätte man sich da jetzt noch ein furioses Schlussfeuerwerk gewünscht. Letztes Jahr spielten zu dieser späten Stunde immerhin The Notwist.

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wenn am Ende der Tour die Klamotten ausgehen...

Danach werden die letzten Kräfte mobilisiert, die letzten Geldreserven am Bierstand investiert und wieder einmal das Diskozelt zerlegt. Warum geht das eigentlich nicht schon Donnerstag los dieser Tanzschuppen? Eine feine Sache wäre das. Bis fünf Uhr werden noch einmal hübsche Menschen betrachtet und die Hits des Wochenendes abgefeiert. Maximo Park-Sänger Paul Smith ist auch ordentlich am Tanzen. Fällt kaum auf, außer dass er wohl etwas ordentlicher gekleidet ist und vielleicht besser riecht.
Und wieder stellt man fest, zu was für Songs Oasis früher in der Lage waren. Die Faust geht Richtung Zeltdach, die Augen dabei geschlossen und die Stimmbänder nah an der Belastbarkeitsgrenze. Ein Glück, dass man sich dabei nicht selbst beobachten muss. Die Musik verstummt, der Zeltplatz ist nun das Ziel. Der Alkohol hat uns überholt, Zukunft war gestern. Verdammt noch mal, wenn das Immergut ein Mädchen wäre, ich würde sie fragen, ob sie mit mir jetzt noch den Sonnenaufgang ankucken mag - so völlig ohne Hintergedanken. Das ist wohl das sympathischste Festival, das ich kenne. Bis nächstes Jahr dann!

Text: Sebastian Gloser
Fotos: Anja Lubitz (1), Antje Graebe (2, 3, 9) Theresia Feldmann und Sebastian Gloser (4-8, 10-13)

Nächsten Monat stellen wir euch den diesjährigen Immergut-Sampler vor, den es dieses Jahr nicht nur als CD, sondern erstmals auch als schickes Tape gibt.

Und eben jenes Tape verlosen wir drei Mal. Bei unseren Specials in der Verlosungsecke erfahrt ihr, wie einfach man es gewinnen kann. Einfach "Immergut hören" anklicken und wer noch mehr Fotos vom Festival ankucken mag, findet eine Galerie bei unseren Konzertfotos.


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