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Tocotronic
Kapitulation
Mit Kapitulation haben Tocotronic endlich das geschafft, was ihnen kaum einer mehr
zugetraut hatte: den Höhepunkt ihrer Post-College-Grunge-Phase. Vielleicht sogar das
beste Album der Bandgeschichte?
Nun, wissen kann man das nicht. Aber man ahnt es. Denn nach einem so konzeptionell klar
umrissenen Spätwerk - mitsamt seiner Oszillationen zwischen laut und leise, Rock und Pop,
Pech und Schwefel, Angst und Selbstbestimmtheit - was soll da noch groß kommen? Das ahnt
sicher auch der junge Mann auf dem Cover, wie er da mit wässrigen und geröteten Augen
einem depressiven Kiffer gleich ins Leere starrt. Er ahnt womöglich, dass nach der
Kapitulation nur der freie Fall warten kann. Oder, als einzige Alternative, die völlige
Abkehr von der eigenen Gestalt, Psyche, Charakter, Sound und Gesamtentwurf. Wer weiß, wo Tocotronic in drei Jahren stehen werden. Jetzt, im hier und heute, 2007, sind die vier
(Ex-)Hamburger auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. Das fängt mit dem epischen
Indie-Rock-Größenwahn "Mein Ruin" an und überzeugt spätestens mit "Kapitulation"
vollends. In dieser (man muss es zu recht so nennen) Hit-Single mutiert von Lowtzow zum
Dandy. Etwas, das er mit dem Nebenprojekt Phantom/Ghost ja eher weniger hinbekommen
hatte. Arne Zank wird mit "Kapitulation" zum besten deutschen Schlagzeuger, Rick McPhail
aber zum Gitarrengott schlechthin. "Verschwör dich gegen dich" ist eine sanfte Umarmung -
so klar und lieblich, wie man es von Tocotronic fast nicht gewohnt ist - und "Imitationen"
umreißt die schönste Utopie, die man sich im freien Fall wünschen kann: "Dein gut ist
mein gut". Wer mit dem Vorab-Versprechen "Sag alles ab" wieder mal auf die falsche Fährte
gelockt wurde, muss zwangsläufig enttäuscht sein. Am besten funktioniert "Kapitulation"
aber für all diejenigen, die der Band bisher am wenigsten abfinden konnten. Der perfekte
Einstieg in eine der spannendsten Bands dieses Landes.
/ Spielzeit: 54:04 / Indierock