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|| Bastian Streitberger ||


Top10

1. The Coral - Roots & Echoes // 2. Mad Caddies - Keep It Going // 3. Arcade Fire - Neon Bible // 4. David Clemmons - Yes Sir // 5. Boris Gott - Bukowski Land // 6. Bright Eyes - Cassadaga // 7. No Use For A Name - All The Best Songs // 8. NOFX - They´ve Actually Gotten Worse Live! // 9. Amy Winehouse - Back To Black (Ltd. Edition) // 10. Tocotronic - Kapitulation

Nun, Jahresrückblicke sind so eine Sache: Entweder man meistert das emotional abgekoppelt unter Wahrung eines abgeklärten Abstands oder man entert noch mal die Gefühlsautobahn um die Ereignisse nochmal hautnah mitzunehmen. Letztere Methode hat zwar ihre Berichtigung und bietet wohl auch den größten Unterhaltungswert, birgt nach dem Prinzip von Jahresrückblick-Gurus wie Kerner und Jauch aber auch eine gewisse Verklärung: Gut und Böse, Glück und Pech, Freud und Leid - und dazwischen? Gar nichts? Nein. Eben, denn manchmal sind die Zwischentöne viel interessanter als das große Ganze. Sicher, mit manchen Namen muss man in diesem Kontext jonglieren, ansonsten wäre der Jahresrückblick ein unvollständiger. Aber vielleicht ist es ganz gut, wenn man die großen Themen dann eher nüchtern angeht, sie akzeptiert und einordnet, aber das Augenmerk auf eher persönlich wichtige Dinge legt.

So startet mein Jahresrückblick auch eher mit kleinen Freuden, wie etwa David Judson Clemmons & The Fullbliss, die mit „Yes, Sir“ ein herrlich unaufgeregt gutes Folkrock/Country-Album hingelegt haben, das auf höchstem Niveau Emotionen bündelte und diese abgeklärt in Musik kanalisierte. Das alte Eisen weiß eben, wie man mit so was am besten umgeht. Auch wenn das Album vielleicht nicht die Aufmerksamkeit bekam, die es verdient hätte, machen solche Entdeckungen doch noch am meisten Spaß.

Nun, alte Bekannte haben uns auch 2007 wieder den Weg begleitet: Sei es durch das längst fällige DVD-Statement im Sinne von Rise Against und ihrer „Generation Lost“-DVD, dem Lebenswerk-Rückblick von Helden aus der (vergangenen) Jugend, als No Use For A Name ihre „All The Best Songs“-Chronik ablieferten oder NOFX, die genau wissen, dass sich Punkrock in all seinen Facetten aus Modeerscheinungen und Marketingstrategien zwar langsam selbst aufgefressen hat, sie aber nicht davon abhält sich mit ihrem zweiten Live-Album „They´ve Actually Gotten Worse Live!“ noch mal ordentlich auf die Schippe nehmen und in Titanic-Manier dabei noch Spaß zu haben. Das hat Klasse, während sich das kreative Überbleibsel Tom DeLonge von Blink 182 doch lieber in ein neues Projekt Angels & Airwaves rettet und sich vorsichtshalber mal auf kompletter Länge selbst zitiert: Vielleicht ein wenig mehr Pop. Oder ein wenig mehr glatt, aber wieder dick produziert. Ein wenig mehr in Richtung vollkommen uninteressant. Dann doch lieber herzerfrischend brachial und kompromisslos wie American Steel, die wie Phönix aus der Asche zurückkamen und beweisen dass sie nichts verlernt haben. Da kann die Generation nach ihr nur ungläubig mit den Ohren schlackern und vorsichtshalber noch eine Ladung Kajal auflegen und sich in die Emo-Mottenkiste flüchten.

Auch schön, wenn sich Bands nach zwei unglaublich guten Alben wieder neu erfinden - wie im Falle von den Mad Caddies: „Keep It Going“ war Titel und Motto zugleich und verwurstete wieder ein neues phänomenales Spektrum an Einflüssen, das mit unbändigem Spielwitz und einhergehender Genialität umgesetzt wurde. Das war ganz groß. Und die Nachfolger stehen schon parat: Gogol Bordello stricken mit „Super Taranta!“ an ihrem eigenen World-Music-Mythos, da konnte selbst die Kollaboration mit Madonna die Bilanz nicht verhageln - auch wenn da ein gewisser dumpfer Nachgeschmack bleibt. Zeigt es doch, wie unverschämt sich der uninspirierte Mainstream auf der Suche nach Verwertbarem neue Genres erschließt und einverleibt.

Zum Glück ging es auch eher klassisch rockend, kamen doch Belasco mit „61“ wieder mit gekonntem Indie- und Britrock um die Ecke, das inspiriert und handwerklich erstklassig ein Leben neben Coldplay und Co. beweist. Ganz edel dagegen The Coral: Warme Melodien, sanfte Gitarren, inszenierte Instrumentierung. „Roots & Echoes“ erzählte in bewegter Sanftmut gemächliche Geschichten, die berühren und konterkarierte sie mit zerrigen Gitarren. Echte Klasse, wie man sie vielleicht noch vom Black Rebel Motorcycle Club zu „Howl“-Zeiten kannte.

Nicht ganz so „sophisticated“, aber dafür mit unverschämt-charmanter Ruhrpott-Dialektik sinnierte Boris Gott über das „Bukowski Land“ und schenkte uns einen wahren Reigen an echten und direkten Songperlen, die auch ohne große Inszenierung und Selbstverliebtheit funktionieren. Ein Schelm wer dabei an Tocotronic oder Blumfeld denkt, die zwar (zurecht) auch mit großem Tamtam bedacht wurden, an deren Ende sich aber auch die Relationen in Frage stellen lassen. Es geht eben auch leise.

Und natürlich haben sich auch bei mir die heftig Beschworenen aus Arcade Fire, Bloc Party, Radiohead, Bright Eyes oder Amy Winehouse in den Gehörgang geschmuggelt - und auch den wohlverdienten Weg ins CD-Regal gefunden. Aber wofür hat man denn so eine große Redaktion, wenn das doch die Kollegen viel besser in Worte packen können. Achja, zugegeben: Herbert Grönemeyer und James Blunt auch. Verdammt. Jetzt kann man es ja sagen, das Jahr ist ja vorbei und die Karten werden neu gemischt.

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