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Ein Sellfish zieht nach Hamburg

Reviewstapel und Umzugskisten

 

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Das Dilemma zieht sich schon seit ein paar Monaten hin: Leider ist es längst nichtmehr so, dass wir in unserer Redaktion sämtliche eingehenden Veröffentlichungen auch berücksichtigen können. Schweren Herzens trennen wir uns da von Scheiben, die vielleicht doch Aufmerksamkeit verdient hätten. Und fragen uns andererseits, wie es bitteschön der Musikbranche so schlecht gehen kann, wenn im Wochenrythmus unzählige neue Alben auf den angeblich übersättigten Markt schwemmen. Letztendlich soll auf diesen Seiten aber eben doch Qualität über Quantität stehen. Lieber ein paar wenige Platten intensiv gehört, als oberflächlich durch einen Stapel CD's geskippt. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Zum einen in Form unserer neuen, im Fließtext gehaltenen MISC-Rubrik. Weil es bei all den ebenso wunderbaren wie zeitraubenden sellfish.de Aktivitäten einfach nichtmehr zu bewerkstelligen war, alle irgendwie relevanten Themen im üblichen Umfang zu berücksichtigen. Zumindest dann, wenn man den entscheidenden Veröffentlichungen auch den nötig Platz einräumen möchte.
Diese Rubrik hier ist nun aber ein Sonderfall, der mit meinem zum 1. Oktober anstehenden Umzug von Nürnberg nach Hamburg zusammenhängt. Einhergehend mit einer neuen Arbeitsstelle und einer neuen Wohnung. Und dem Ausziehen, Aufräumen, Streichen etc. der alten Wohnung. In diesem Falle alles zusammen und an nur einem Wochenende. Ihr kennt das vielleicht. Diese Umstände jedenfalls schienen trotz aller Vorfreude auf Hamburg der Todesstoß für meine sellfish.de Beiträge. Um das nun zumindest ansatzweise zu kompensieren, hier also schweren Herzens eine Auswahl der Alben, die von jetzt bis Mitte Oktober zum Teil bestimmt weitaus größere Resonanz verdient hätten und an dieser Stelle wenigstens kurz zu Wort kommen sollen. Eine Punktebewertung lasse ich außen vor, was angesichts der manchmal recht kurzen Hördauer meinerseits sowieso nicht ganz fair gewesen wäre. "Vorarbeiten" nennt man so etwas wohl, würde es nicht so viel Spaß machen. Jedenfalls klinke ich mich mit diesen Zeilen bis Mitte Oktober aus dem sellfish.de Kontext aus und überlasse den Kollegen Gloser, Heldner und Streitberger - als hätten die nicht selber genügend zu tun - das Feld.

Den Anfang in dieser Quasi-MISC-Rubrik macht Heather Duby (Sonic Boom Recordings/Cargo), bei der es mir besonders leid tut, dass sie hier in nur so wenigen Zeilen abgehandelt wird. Schließlich ging bereits das Vorgängerwerk "Come Across The River" der ehemaligen SubPop-Künstlerin - trotz unseres privaten sellfish.de Hypes - hierzulande leider unter. Das neue Album ist selbstbetitelt und zeigt die Sängerin und Songschreiberin aus Seattle gereifter denn je: Die zwölf Stücke finden noch konsequenter als bisher den Weg zwischen analogen Instrumenten und Elektronik, ohne dabei auf Experimente zu verzichten. Hoffentlich hören diesmal mehr Leute hin: So selbstbewusst und unaffektiert wie Heather Duby kreieren nur wenige ihren eigenen, charakteristischen Sound. Ein Kleinod, welches zu keiner Sekunde auf Massentauglichkeit getrimmt wurde.
Kasabian dagegen verschanzen sich auf ihrem zweiten Album nichtmehr so stark hinter Synthesizern wie bisher: Auf "Empire" (SonyBMG) fahren die Briten ihre Raveanteile zugunsten von teilweise Beatlesker Songwritingtradition deutlich zurück. Zwar finden sich gleich mit dem Titelstück und Opener wieder klare Referenzen an das gelungene Debüt oder natürlich Vorbildern wie Stone Roses, Charlatans oder Primal Scream. Insgesamt erweiterte man das eigene Spektrum aber gekonnt. Mit dem verstärkten Augenmerk auf Songwriting gelingt es Kasabian außerdem, die gelegentlichen Durchhänger des selbstbetitelten Vorgängers auszumerzen. Was bleibt ist ein groovendes, schwer tanzbares Stück Musik, welches mittlerweile auch abseits der Style-Komponente ausgezeichnet funktioniert.
Ein paar Etagen darunter in meinem Reviewstapel dafür ganz konventioneller Skandinavien Rock'n'Roll again. Diesmal allerdings aus Neuseeland...: The Datsuns wurden zu Zeiten ihres Erstlingswerkes noch allenthalben als das nächste große Ding abgefeiert. Eine trendbedingte Euphorie, die sich schon mit dem Nachfolger vehement änderte. Bei "Smoke & Mirror" (V2 Music) nun ist der Stand schon wieder ein anderer. Die Szene hat sich mittlerweile gesund geschrumpft, das überdimensionale Medieninteresse ist längst verflüchtigt. Dennoch bleibt es fraglich, ob die Datsuns mit ihren zehn recht traditionellen Tracks neuerlich Aufmerksamkeit bekommen werden. Dafür klingt ihr Sound einfach eine Ecke zu unspektakulär. Wem das nichts ausmacht, der dürfte mit Hits wie "Who are you stomping you foot for?" aber glücklich werden.
Doch während man The Datsuns ohne schlechtes Gewissen mit ein paar Zeilen anhandeln kann, liegt die Sachlage bei Xiu Xiu ganz anders. "The Airforce" (5rue Christine/Cargo) wird nicht zu unrecht als eines der relevantesten Independent-Releases überhaupt gehandelt. Detailverliebt, skurril und erhaben schmückt Jamie Stewart seine Kompositionen wieder einmal. Doch bevor ich hier über etwas urteile, was ich noch gar nicht komplett verstanden habe, sei vor allen Dingen auf das hoffentlich in kürze folgende Interview hingewiesen. Bis dahin habe ich mich hoffentlich noch tiefer in das Dickicht seiner pathetisch-verschlungenen Songs hervorgearbeitet.
Der zweite reguläre Longplayer von Amplifier (nach der ebenfalls großartigen "The Astronaut Dismantles HAL" EP) liegt hier dagegen schon so lange herum, dass ich mich bereits an die neuerliche Lobeshymne heran wage: "Insider" (Steamhammer/SPV) atmet die Vibes von Blues- und Jamrock-Legenden wie Led Zeppelin oder Black Sabbath tief ein, ergänzt sie um die Intensität der Sounds von Tool oder Ostinato... und hievt das ganze als stimmiges Gesamtkunstwerk ins Hier und Jetzt. Amplifier gelten bei uns nach wie vor als Geheimtipp, in ihrem Heimatland sind sie dank exzessivem Presselob jedoch schon längst in die obere Rock-Liga aufgestiegen. Was angesichts des sich erst Stück für Stück erschließenden Potentials der Kompositionen eine beachtliche Leistung ist. Die psychedelisch angehauchte Musik der Briten verfügt nicht eben über großes kommerzielles Potential, entfaltet dafür jedoch eine Langzeitwirkung, die sie von den schnelllebigen Ergüssen vieler Kollegen nachhaltig abhebt.
Eine ganz andere Form von Psychedelika produzieren Head Like A Kite: "Random Portraits Of The Home Movie" (Pattern 25/Alive) klingt entsprechend seinem Titel dezent cineastisch. Was vor allem an den vielen Samples und der Elektronik liegt, welche dem Indie-Sound der Amerikaner eine sehr atmosphärische Komponente verleihen. Dass diese Kombination über enormes künstlerisches Potential verfügt, bemerkte auch Soundbastler Brian Deck (Modest Mouse), der diesem Konglomerat aus Primal Scream, Kraftwerk und Notwist zu einem phänomenalen Klang verhalf. Head Like A Kite gelang hier mit ihrer Interpretation von Indietronic etwas ganz besonderes, welchem alle Liebhaber zwischen TripHop, Krautrock und Independent ein Ohr schenken sollten. Mehr als eine Alternative zum neuen Kasabian-Album!

Die World Inferno Friendship Society dagegen will auch auf "Red Eyed Soul" (The Company With The Golden Arm) nicht in den Kopf, sondern direkt in die Beine. Die Duz-Freunde von The Robocop Kraus ließen sich dafür sogar eine Produktion vom New Yorker Homie Don Fury zaubern, dank welcher die 15 Songs schöner denn je strahlen. Dürfte schließlich gar nicht so einfach gewesen sein, den vielschichtigen Sound des mehrköpfigen, losen Musiker-Kollektivs einzufangen. Doch wovon es bislang vor allem auf der Bühne kein Entrinnen gab, das lässt jetzt auch auf Tonräger keinerlei Alternativen zu.
Apropos Entrinnen: Kennt eigentlich noch jemand die Band Breather Resist? Eine Noiserock-Formation um Mitglieder aus den Reihen von Black Cross und National Acrobat, die mit "Charmer" vor ein paar Jahren ein schmerzhaft-schönes Album über Jade Tree veröffentlichten und sich danach auflösten. Ein Teil der damals mitwirkenden Musiker meldet sich jetzt unter dem Namen Young Widows zurück und knüpf mit dem bärenstarken "Settle Down City" (Jade Tree/Cargo) an alte Glanztaten an. Dabei haben sich die drei beteiligten Individuen längst von zu engen Genregrenzen freigeschwommen: Beinahe doomige Gitarrenriffs treffen in vertrackten Songarrangements auf subtile Hooklines und treibende, lärmende Rhythmik. Eine lohnende Herausforderung!
Hmm, und was soll ich nur zu dem zu Senore Matze Rossi mutierten Herrn Nürnberger sagen? Der ehemalige Tagtraum-Frontmann legt mit "Und Wann Kommst Du Aus Deinem Versteck" (Dancing In The Dark/Caramba) nämlich sein Soloalbum vor. Und verspielt dabei leider alle Sympathie, die ich als alter Tagtraum-Fan für die Stimme des Schweinfurters hegte. Aber es hilft nichts: Die zehn Songs erliegen diesmal endgültig der Pathos-Überdosis, das Metapher-Schwein stolpert reich nach Hause und die fehlende Energie kann auch durch überdeutliche Tomte-Schielereien nicht wett gemacht werden. Objektiv ist die Platte sicher schön arrangiert und so, aber ich muss ehrlich sagen, dass mir die Songs gar nix geben... Nennt mich rückwärtsgewandt, aber das war 'mal anders!
Genau, anders. So sieht der Fall nämlich bei den ebenfalls aus deutschen Landen stammenden Kurhaus aus: Deren emotionaler Hardcore-Punk zwischen Melodie und einem gesunden Quentchen Lärm fällt auf "A Future Pornography" (PXF Records/Zeitstrafe) noch eine ganze Ecke songorientierter aus als auf dem via Freecore Records erschienenen Vorgänger. Die Band aus Bad Bramstedt ließ sich sogar von einem gewissen Chris von Rautenkranz (Blumfeld, Franz Ferdinand) aufnehmen. Was keineswegs in einem glatten Album, sondern schlicht in 13 sehr emotionalen, fokussierten Songs mündete, die noch dazu mit einem wunderbaren Artwork versehen wurden. Und wer Stücke wie "From Gainesville to Hamburg" schreibt, der steht auf der richtigen Seite. Sehr sympathisches Album!

Den Anfang der Elektronik/Rap-Abteilung in meiner Reviewkiste macht gleich das wohl beste HipHop-Mixtape, welches mich seit Tony Touchs' legendärem "The Piece Maker" begeistert hat. "The Foundation" (Street Tape/Peripherique Rec./Grooveattack) entstand unter der Federführung des Mainzer/New Yorker/Pariser Produzenten Shuko und steckt voller hochkarätiger Beiträge. Mit Rakim, Talib Kweli, Old Dirty Bastard und Heltah Skeltah seien nur ein paar der Highlights genannt, die hier von einem echten Underground-Vertreter teils in gemixter Form zu einem über 70-minütigem Hitfeuerwerk verwoben wurden.
In kommerziell weitaus höheren Sphären schwebte dagegen Kool Savas, der mit "Optik Takeover!" (Optik Records/SonyBMG) noch einmal alles auf eine Karte setzt. Nach den etwas mageren letzten Monate schaarte er seine gesamte Posse (darunter Melbeatz, Ercandize, Franky Kubrick oder Lumidee) um sich, um mit dieser Compilation noch einmal zu beweisen, was aus seinem Berliner Label geworden ist. Die Produktionen stehen US-Standards längts nicht mehr nach - was leider auch manchmal für die Texte gilt: Tracks wie "Homo thugs" disqualifizieren ein an sich vielleicht recht kurzweiliges Projekt intellektuell kurzerhand auf die Ersatzbank.

Ihrem Ruf als bester einheimischer Punk'n'Roll Liveact lassen die Dumbells nun einen bis zum Limit vollgestopften Longplayer folgen: "Instant Apocalypse" (No Solution Records/Cargo) ist mit seinen 27 Tracks nämlich keineswegs eine Compilation. Nein, in ihrer funkensprühenden Energie haben die ehemaligen Cellophane Suckers-, Molotow Soda- und Berzerkerz-Mitglieder schlichtweg einen ganzen Batzen neuer, schmutziger Punksongs eingespielt. Und damit das ganze nicht langweilig wird, gibt es von den überwiegend in Köln ansässigen Herren zwischenzeitlich auch ein paar seltsame akustische Tracks, Glam-Anleihen sowie andere mehr oder minder gelungene Experimente zu hören. Meistens aber geht es auf die Zwölf. Wer auf dieses Sound steht, bekommt von den Dumbells hiermit jedenfalls die Punk'n'Roll Vollbedienung...

Szenewechsel. Dass ich Death Metal mag, blitzt auf diesen Seiten wohl immer einmal wieder durch, auch wenn mir die ganze Angelegenheit eher unangenehm ist. Mit dem selbstbetitelten Album von Suffocation (Relapse/SPV) meldet sich aber eine derart legendäre Krachformation so lautstark zurück, dass man sie einfach nicht ignorieren kann. Im 16. Jahr ihres Bestehens zeigen die Amis nämlich noch einmal nachdrücklich, was sie alles drauf haben. Und das ist nicht nur in technischer Hinsicht Pflichtprogramm für alle Freunde komplexer Lärmwände, das Album belohnt dazu mit hervorragendem Songwriting - In diesem Genre selten genug!
Ach ja, nochmal Metal. Warum Disillusion mit ihrem Zweitwerk "Gloria" (Metal Blade/SPV) so abkacken, wüsste ich auch gerne. Schließlich war der Vorgänger "Back To Times Of Splendor" ein Meisterwerk in der Schnittmenge aus Katatonia, Opeth bzw. Godgory - und damit mit Sicherheit eines der einheimischen Metal-Highlights des Jahres 2004. Die neuen Songs dagegen leiden an drittklassig effektbeladenen Vocals, enttäuschendem Songwriting plus einem aufgesetzten Gothic-Appeal. Sehr schade, denn von dieser Band hatte ich mir wirklich viel versprochen.
Wesentlich ambitionierter gehen da schon By Night aus Schweden vor, die mit ihrem Zweitwerk "A New Shape Of Desperation" (Lifeforce Records/Soulfood) erfolgreich die in sie gesetzten Vorschusslorbeeren rechtfertigen. Zwischen Raised Fist und Meshuggah findet man im Neothrash der Fünf mittlerweile auch das, was man auf dem Debüt noch vermisste: Abwechslunsgreichtum und Wiedererkennungswert. Natürlich ohne dass man dabei auch nur ein Quentchen an Härte in seinem klinischen Sound verloren hätte.
Härte und klinischer Sound sind leider auch das erste, was mir zum dritten Werk von Into Eternity einfallen. Denn "The Scattering Of Ashes" (Century Media/SPV) bewegt sich ein Stück von den hochkomplexen Progressive-Thrash-Sounds der Vergangenheit weg. Dafür knüppeln die Kanadier auf den elf Songs überraschend straight aus den Boxen. Der ein oder andere Ohrwurm hier wird jedoch durch den etwas unglücklichen Sound getrübt, welcher den detailversessenen Arrangements nicht wirklich gerecht wird. Auch die Stimme von Neuzugang Stu Block mit seinen sehr hohen Vocals bleibt zunächst gewöhnungsbedürftig, wohingegen sich Gitarrist Tim Roth in gewohnter Manier für die Growls verantwortlich zeichnet. Nach ein paar Hördurchgängen steht aber fest: Into Eternity rangieren nach wie vor in der kompositorischen Referenzklasse, müssen sich als Band aber nach den Besetzugswechseln noch einmal neu finden.
Ganz aus den Tiefen meiner Umzugskartons konnte ich dann zuletzt noch ein echtes Urgestein des deutsche Deathmetals retten: Resurrected aus Duisburg prügeln sich auf "Endless Sea Of Loss" (Morbid Records/Soulfood) durch acht brutale Genretracks. Markenzeichen: Extremst heruntergestimmte Gitarren... und könnte man auch Vocals tiefer stimmen: Frontgurgler Carsten Scholz wäre der Lehrmeister darin. Dazu kommt eine verdammt fette Produktion sowie ein herrlich klassisches Artwork. Das Resultat dürfte ein regelrechtes Fest für alle Fans von Gorefest, Sinister oder Morbid Angel sein. Übrigens: Solche Scheiben erschienen Anfang der Neunziger zuhauf auf Nuclear Blast - heute stellen sie vor allem eine sympathische Rarität dar.


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