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Seachange Interview

Never half-arsed, always whole-hearted

 

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Mitte März 2007. Eine gute Freundin und ich hängen seit einer halben Stunde am Telefon, quälen uns jeweils durch bahn.de und überlegen krampfhaft, wie wir es wenige Tage später doch noch zum letzten Gig einer Band schaffen können, die die vergangenen Jahre entscheidend geprägt hat. Zumindest musikalisch. Aber auch menschlich. Konzerte waren hier immer auch Begegnungen. Aus Kontaktfreudigkeit und Neugier wurden Interviews und aus einem Bier meistens ein paar mehr.
Nach einer weiteren halben Stunde müssen wir uns eingestehen, dass wir den letzten Auftritt von Seachange in Bonn nicht live miterleben werden. Die Fahrt ist zu weit, zu teuer und die Verpflichtungen am Folgetag unaufschiebbar. Der letzte Vorhang wird ohne uns fallen, darüber kann auch eine SMS der Band nicht hinwegtrösten: „No worries man, thanks for all the support over the years, see you next year [with one of our new bands]”. Stell dir vor Seachange spielen ihr letztes Konzert und keiner geht hin... So schlimm ist es dann aber natürlich nicht – im Gegenteil: Die Fans der britischen Band sind noch einmal zahlreich gekommen und für uns bleibt immerhin der Mitschnitt im Rahmen des WDR Rockpalasts, der später auch als Live-Album mit dem Titel „Disband in Bonn 2007“ veröffentlicht wird.

Am Ende soll es doch nicht ihre allerletzte Veröffentlichung bleiben. Ein Jahr nach dem Split werden die Schubladen geleert, im Proberaum noch einmal zusammengekehrt und herauskommt mit „The Stars Whiteout“ eine bezaubernde finale EP.
Wie kommt es aber eigentlich zu der recht überraschenden Auflösung, nachdem man mit zwei überragenden Alben namens „Lay Of The Land“ und „On Fire.With Love“ zumindest in Deutschland fast so etwas wie Kritikerlieblinge geworden war.
Bereits vor den Aufnahmen der zweiten Platte verlässt Cellistin Johanna Woodnut die Band. Eine Lücke, die mit Multiinstrumentalist Neil Wells (auch Escapologists und Savoy Grand) zunächst mehr als passend geschlossen werden kann, doch nach den Touren zum zweiten Longplayer stellen Gitarrist Adam Cormack und Bassist James Vyner fest, dass nun feste Jobs hermüssen, wenn man die Familie ernähren muss und auch weiterhin die Miete bezahlen will.

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„Es ist zwar nicht besonders Rock n’ Roll das zu sagen, aber wir haben mit Seachange fast nie wirklich Geld verdient und als ich dann 30 Jahre alt geworden bin, musste ich trotz allem künstlerischen Anspruch einfach einen Weg finden Geld zu verdienen“, erklärt James den Schritt. „Ich will eine Familie und einen Garten, in dem ich Gemüse anbauen kann. Also habe ich beschlossen Nottingham zu verlassen und nach London zu ziehen. Ich wollte schon seit ein paar Jahren dort hinziehen, vor allem um näher bei meiner Familie zu sein und als ich dort ankam, habe ich festgestellt, dass ich so nicht länger ein Teil von Seachange sein kann und habe den traurigen Entschluss gefasst auszusteigen.“
Sänger Daniel Eastop sieht das ähnlich: „Wir wussten, dass wir alle zusammen dafür nicht mehr so viel Zeit aufbringen konnten, wie wir es zuvor getan hatten. One thing I am very proud of about Seachange was that it was always whole-hearted.” Neil Wells fügt nüchtern hinzu: „Man musste einfach feststellen, dass wir nicht genügend Platten verkauft haben, um davon leben zu können. Es war uns aber immer sehr ernst damit und we thought we'd rather finish it, than do it in a half-arsed way.“
Und James erklärt noch einmal: „Als wir älter wurden und sich unser Leben veränderte, stand die Band nicht mehr an erster Stelle und damit konnte ich nicht umgehen, dass das ganze nur noch als Teilzeitprojekt läuft oder bloß ein Hobby ist.“ „Es war eine Schande, aber es war der richtige Schritt. Wir konnten so nicht weitermachen, ohne dass es etwas völlig anderes geworden wäre“, fasst Schlagzeuger Simon Aldcroft abschließend zusammen.

War die Auflösung eine Entscheidung, die euch jetzt noch mal traurig gemacht hat, als ihr „The Stars Whiteout“ zusammengestellt habt oder betrachtet ihr das inzwischen recht nüchtern?
Dan Eastop:
Emotionale Momente bezüglich Seachange habe ich immer wieder. Die Veröffentlichung der EP war jetzt aber nie als besonderer Moment auserkoren, insofern macht mich das jetzt nicht traurig, sondern lässt mich das Ganze einfach nur reflektieren.
James Vyner: Ja, es macht mich traurig, aber auch glücklich. OK, wir haben einige Fehler gemacht und ich bereue einige Schritte, aber in erster Linie denke ich, dass wir eine super Band waren und ich bin stolz auf die Songs, die wir geschrieben haben und auf die Konzerte, die wir gespielt haben. Viele der emotionalsten Momente in meinem Leben habe ich durch Seachange erlebt.
Neil Wells: Natürlich ist es traurig, aber andererseits hatten wir eine bessere Zeit, als so viele andere Bands, die nicht einmal ein Album veröffentlichen können.

Wie kam denn nun eigentlich die Idee zustande mit “The Stars Whiteout” noch einmal eine EP zu veröffentlichen? „Disband in Bonn 2007“ schien ja bereits ein adäquates Ende zu sein...
Dan:
Du hast absolut recht, das Live-Album war ein adäquates Ende!
James: Eigentlich wollten wir die EP zur selben Zeit wie das Live-Album veröffentlichen, aber ich war zu beschäftigt, um die Songs zu mischen. Vor einigen Monaten hatte ich dann etwas Zeit, um den finalen Mix zu machen und nachdem wir dachten, dass das ein paar tolle Stücke sind, wollten wir das doch noch veröffentlichen. Dass das jetzt allerdings erst so spät passiert, ist in erster Linie mein Fehler.

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Seitdem ihr euch aufgelöst habt, gab es viele Debatten über sinkende CD-Verkäufe und Vermarktungsstrategien im Zuge des Radiohead-Albums, war das für euch mit ein Grund die EP jetzt zunächst kostenlos und auf eine bislang unübliche Art zu veröffentlichen?
James:
Wir haben diverse Vorschläge diskutiert, wie wir „The Stars Whiteout“ am besten veröffentlichen könnten und die EP kostenlos zugänglich zu machen, erschien uns die beste Lösung. Wir haben nie erwartet damit Geld zu machen, wir wollen einfach nur, dass es sich die Leute anhören.
Neil: Ich glaube ja, dass diese ganze Radiohead-Geschichte einfach nur eine große Marketingstrategie war und wenig respektvoll ihren Fans gegenüber. Die Qualität der MP3s, die sie angeboten haben, war fast unanhörbar, dass heißt wer das Album wirklich haben wollte, musste sich den physischen Tonträger holen. Der Download fühlte sich eigentlich eher wie ein Trailer an. Ich habe mich betrogen gefühlt, weil ich ehrlich war und £5 bezahlt habe für etwas, das eigentlich total wertlos war und ich dann auch nur einmal angehört habe (allerdings habe ich zu der Zeit auch eigentlich nur die fantastische Shocking Pinks-Platte angehört).

Es hätte ganz anders kommen können. Bereits bei Album Nummer Zwei haben Seachange ganz große Pläne. Ein Doppelalbum soll es werden. Auf der einen Seite möchten sie ihre etwas sperrigere Noiserock-Seite ausleben, sich auf der anderen eher von der ruhigeren, melancholischen Folkpop-Seite präsentieren. In der Folgezeit verlieren sie ihr hochdekoriertes Label Matador und verabschieden sich nach und nach von dem Plan des Doppelalbums. Die Songs reichen einfach nicht aus und die Studiozeit sowieso nicht. Am Ende wird „On Fire, With Love“ beide Facetten vereinen und dennoch hat man das Gefühl, dass hier noch deutlich mehr drin gewesen wäre, auch wenn ihr neues Label Glitterhouse zumindest in Deutschland alles menschenmögliche für sie tut.

Wart ihr enttäuscht über die Reaktionen auf das zweite Album? Beim ersten habt ihr so viel Lob bekommen, beim zweiten hattet ihr abgesehen von Deutschland nicht einmal ein Label und habt „On Fire, With Love“ in England selbst veröffentlicht.
Dan:
Ich habe eigentlich gar nicht erwartet, dass wir in Großbritannien überhaupt ein Label für das zweite Album finden, allerdings gab es Gerüchte, dass schon Leute daran interessiert waren. Mit dem Vorteil jetzt mit etwas Abstand auf die Sache zurückzublicken, muss man aber feststellen, dass das ganze nicht mehr ins unseren Händen lag. Mehr geärgert habe ich mich allerdings über die schlechten Kritiken zum ersten Album.
James: Ich glaube ja, dass uns Stephan (our amazing press officer) nur die guten Reviews geschickt hat. Außerdem kann ich kein Deutsch und habe dann gedacht, dass alle Reaktionen gut waren. Ich war mit teilen der Produktion des ersten Albums nicht zufrieden, weswegen „On Fire, With Love“ für mich ein ganz persönliches Erlebnis war. Ich wollte etwas erschaffen, worauf ich stolz sein konnte und that would stand the test of time, which I think we did. Und um ehrlich zu sein, gebe ich einen Scheiß darauf, was andere darüber denken. Beim NME haben sie „Lay Of The Land“ mit zwei von zehn Punkten bewertet und es als etwas beschrieben, dass „nur eine Mutter lieben könnte“. Ironischerweise mag meine Mutter das Album überhaupt nicht. Wenn du einmal so eine Kritik bekommst, kümmerst du dich nicht länger um die Meinungen anderer, du musst das einfach für dich selbst machen.
Simon Aldcroft: Einige der Kommentare waren sehr nett, manche haben es richtig eingeschätzt und andere lagen komplett daneben, aber so läuft das nun mal immer mit der Presse. Es wäre schön gewesen noch mehr Reviews zu bekommen, aber das war nun mal leider nicht der Fall.

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Ihr habt euer letztes Konzert in Deutschland gespielt, was ja schon recht ungewöhnlich ist für eine britische Band. Wie kam eure besondere Bindung zum deutschen Publikum und wie habt ihr diesen letzten Auftritt erlebt?
Dan:
Der Auftritt war verrückt, traurig und gleichzeitig hat er sehr Spaß gemacht.
James: Ich weiß auch nicht genau, wo dieses besondere Verhältnis her rührt. Ich glaube einfach, dass die Leute hier kapieren, was wir machen. Wir hatten tolle Unterstützung von der Presse und den Fans, aber auch von den Labels. Zunächst von der Beggars Group, die sich für Matador um das Debüt gekümmert haben und dann die riesige Unterstützung von Glitterhouse bei „On Fire, With Love“. Als uns dieser Rockpalast-Auftritt angeboten wurde, war mein erster Gedanke: „Noch einmal ‚Superfuck’ im Fernsehen spielen? Oh yeah!“

Nennt doch rückblickend auf die Zeit mit Seachange noch ein paar persönliche Höhe- und ein paar Tiefpunkte in der Bandgeschichte und ob ihr irgendwas bereut?
Dan:
Highlights: flying from New York to LA on tour, that Munich Amphitheatre gig, those moments words ‘fitted’ with chords others had written, hearing Adam playing guitar in the cellar, the others letting me get away with it. Lowlights? Oh Jesus! Being in the ambulance absorbing that NME review on the way to Glasgow to play to about 5 people! Johanna leaving, Neil joining… there are many, many more, but fuck it, no regrets really.
James: So many.. Playing before The Notwist at Immergut festival and looking out at the crowd to see a load of people crowd surfing was pretty special. Also when Steve Malkmus came to our first gig in New York and freaked Dave out by wandering up to see what guitar pedals he was using - that was cool. Visiting Niagara Falls when touring the USA… So many amazing moments… Regrets? Well, perhaps we should’ve taken a bit longer over our second record for Matador…
Simon: Highlights: playing and swimming around the world, meeting Steve Malkmus, Matador karaoke, Glitterhouse’s massive house party - OBS, Rockpalast. Lowlights: Newark modified car festival.
Johanna: Highlights: Salt beef on rye before playing the Bowery Ballroom, meeting Steve Malkmus, getting the perfect violin sound for ‘Come On Sister’ in an echoey hallway after 6 hours of trying, Immergut - nothing can describe the feeling of looking out into that crowd, getting to know each other in vans, driving into New York with Althea and Donna on the stereo… Lowlights: waiting, being asked by interviewers who slept where, waiting, getting to know each other in vans, waiting, too much cigarette smoke and late nights for a country girl, trying to work out when to call it a day, and how.
Neil: Highlights: getting the last note of the last song of the last show right.

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Trotz der Gründe für das Aus von Seachange macht ihr ja fast alle noch weiter Musik, erzählt doch mal von euren neuen Projekten.
James:
Ich spiele bei The Grave Architects, die vor allem aus Mitgliedern von Goldsounds bestehen. Goldsounds tauchen in vielen Seachange-Aufnahmen auf, wenn es um backing vocals oder merkwürdige Keyboard-Parts geht. Wir veröffentlichen demnächst unsere erste Single, haben unser Album fast fertig und kommen nächstes Jahr hoffentlich mal für ein paar Konzerte nach Deutschland.
Neil: Ich mache mit Dave, Daniel, Simon und unserem guten Kumpel Seb Dearest. Da ensteht was, ganz langsam. Keine Ahnung, ob wir irgendwann auch mal Platten veröffentlichen... wir werden sehen. Ich habe vor Kurzem ein Album mit meinem Soloprojekt Line fertiggestellt, was dann Anfang nächsten Jahres erscheinen wird. Ich finde es ziemlich gut, aber es ist total anders als Seachange, eher so Elektropop lovesongs.

OK, jetzt wissen wir, wie eure nahe Zukunft aussieht, aber die abschließende Frage muss natürlich lauten: In wie vielen Jahren können wir mit der Reunion rechnen?
Dan:
Ich glaube eher, dass unsere Kinder wieder gemeinsam Bands gründen werden, als dass wir uns noch einmal als Band formieren! Wer weiß...?
James: „Reform (for money) in Bonn: 2012“ featuring all the hits plus some new classics!

Interview und Text: Sebastian Gloser
Fotos: Pressefreigaben

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