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MISC - Mai 2008 l #23

Schubladendenken: Prog.Post.Noise.Elektro.HipHop.

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Diesmal mit:

Bellavista | Booka Shade | Born Rufians | Bulbul | Demians | Kidz In The Hall | Wrongkong | Fuse Presents Adam Beyer

Dank der Eigendefinition ihres Stils als „Psychbeat“ mögen Bellavista Menschen mit abstraktem Denkvermögen tatsächlich einen Hinweis geben, was das Trio aus San Francisco auf seinem selbstbetitelten Debüt entfacht. Steve Albini jedenfalls dürfte seine Freude am spröden Sound von "Bellavista" (Kntrst/Universal) haben. Gründe dafür gibt es zuhauf. In Form reichlich übersteuerter Gitarrensounds zum Beispiel; oder einer enorm dynamischen Rhythmusfraktion sowie dem generellen Gefühl von Artwork bis zum Klang der Platte, dass wir es hier mit einem Relikt aus der Vergangenheit zu tun haben. Apropos Vergangenheit: Diese fristeten alle Beteiligten bis vor kurzem unter dem Titel Vue und veröffentlichten seinerzeit unter anderem via Sub Pop und GSL. Doch zurück zum hier und heute: Angesiedelt irgendwo in der Schnittmenge zwischen Amrep-Noise, Dischord-Postrock und der Verschrobenheit von Jesus And Mary Chain sollen/müssen Freunde atonaler, fuzziger Gitarrenharmonien oder auch Bellavistas‘ gegenwärtiger Tourpartner - Scraps Of Tape bzw. Trail Of Dead (!) - ein Ohr riskieren.

Sie sind spätestens nach ihrem umjubelten DJ Kicks-Beitrag eine der aufregendsten Entdeckungen der gegenwärtigen Elektronik-Szene: Booka Shade zeigen sich mit "The Sun & The Neon Light" (Get Physical/RTD) der umtriebigen Berliner Schule längst entwachsen. Anstelle permanent den Dancefloor zu penetrieren, wagen sich die 14 Tracks nämlich vermehrt an Pop und atmosphärische Passagen heran. Nicht zu Unrecht wird im Platteninfo deshalb von einer „songorientierten Herangehensweise“ gesprochen. Das Konzept „Horizonterweiterung“ geht jedenfalls auf, ohne dass die eigenen Wurzeln aus dem Fokus geraten. Womit die Beiden mit etwas Geschick neue Hörerschichten erreichen werden. Nicht, weil hier irgendjemand kommerzielles Gedankengut hegt. Sondern schlichtweg deshalb, weil Booka Shade auf ihrem dritten Album das strenge stilistische Korsett abgestreift haben, welches nach erwähnter DJ Kicks Episode ohnehin nicht mehr passte. Nun trauen sich die beiden Produzenten bzw. Labelmacher erstmals selbst aus den sicheren Wänden von Deutschlands Vorzeigeclubs heraus. Und wissen mit ihrer Musik auch in der „realen Welt“ zu bestehen. Das Ganze wird es übrigens auch in limitierter Form samt - dann nun also doch! - tanzbodenkompatiblerer Edits der Originaltracks geben.

Shows mit Hot Chip und Peter, Björn and John… Heimat: Toronto… Die Umstände, unter welchen das Debüt der Born Ruffians erscheint, könnten kaum besser sein. Grund genug für die Band um Sänger Luke Lalonde mit "Red, Yellow & Blue" (Warp/Rough Trade) ein reichlich selbstbewusstes Werk vorzulegen. In die oft elektronisch besetzte Heimat ihres Labels drängen sie mit einem Album, welches erfolgreich die poppigen Zwischentöne aus Post Punk und No Wave herausfiltert. Was dazu führt, dass der (analog zum Schriftzug der Band) reichlich farbenfrohe Sound des Trios zwar live zu absoluter Höchstform auflaufen sollte. Aber dank dieser elf Tracks sogar in konservierter Form blendend funktioniert: "Red, Yellow & Blue" gerät zu einem kurzweiligen Trip durch diverse Genres, welches tanzwütige wie tolerante Musikhörer mit einem gut gelaunten Stück Musik entlohnt, dessen juvenilen Charme man sich nur schwer entziehen kann.

In einer vollen Stunde überschreitet dieses österreichische Trio mehr Grenzen (stilistische und solche des guten Geschmacks), als ich mir überhaupt bewusst war, dass sie existieren: Bulbul jedenfalls sind denkbar weit davon entfernt, so etwas wie eine durchschnittliche Band zu sein. Vielmehr wurde "Bubul 6" (Mainstream Records/Soulfood) ohne Frage eines der obskursten, am schwersten zu kategorisierendsten Alben, welches unsere kleine Redaktion in den letzten Monaten heimgesucht hat. Und das will durchaus etwas heißen. Konkret: 15 Tracks zwischen monoton-stampfend, hysterisch-überdreht und ziemlich fett groovend. Samt Titeln wie „Fremder Hingepisst“, „Loss Mei Hen In Ruah“ oder „Where The Hell Is DJ Fett“. Elektro Funk, Noise, Rock’n’Roll, gute alte AmRep-Schule - und eine eigenwillige, niemals alberne Form von Komik. Vielmehr scheint es fast, als würden Bulbul der gegenwärtigen Musikszenen den Spiegel vorhalten… und dahinter noch eine Fratze schneiden. An ihrer Seite ein Produzent der Elektronik-Szene, Koryphäe Carla Bozulich sowie ein Artwork-Konzept, das sprachlos macht. Nicht einfach, aber ziemlich phänomenal.

Die im Zuge dieses beachtlichen Debüts oft zitierten Ähnlichkeiten zu Porcupine Tree kommen nicht von ungefähr. Abgesehen von den stilistischen Überschneidungen funktionieren auch Demians nämlich vor allen Dingen um eine Person: Nicolas Chapel kümmerte sich - wie seinerzeit Steve Wilson - abseits der Bühne völlig alleine um Kompositionen, sämtliche Instrumente sowie die Vocals. Kaum überraschend also, dass die Veröffentlichung von "Building An Empire" (Inside Out/SPV) vom Label mit diversen Lobeshymnen-Zitaten Wilsons' begleitet wird. Zumal sich das Werk auch als mutiger Wanderer zwischen musikalischen Welten präsentiert. Auf Gitarrenfrickeleien scheint man keineswegs angewiesen; allemal ein paar groovende Riffs durchbrechen die atmosphärischen Kompositionen, deren überlegte Dynamik ebenfalls an Porcupine Tree gemahnen lässt. Doch auch Tool oder Dead Soul Tribe dürften in der Entstehungsphase dieser Songs eine große Rolle gespielt haben. Demians mögen rein kalendarisch betrachtet noch am Anfang ihrer Karriere stehen: In punkto Überzeugungskraft, besser: Sogwirkung, haben sie sich bereits jetzt nahe an die ganz Großen herangetastet.

Die Roots haben mit ihrer aktuellen Platte den Retro-Trend zwar ebenfalls erkannt. Doch dank Guilty Simpson weiß die old school HipHop-Szene bereits eine neue Koryphäe in den eigenen Reihen; welche hier übrigens auch ein Gastspiel gibt. Kidz In The Hall selbst haben jedoch gleichermaßen das Zeug dazu, in Kürze weit vorne mitzuspielen. Dort findet jedenfalls bereits ihr Zweitwerk "The In Crowd" (Duckdown/Groove Attack) statt, welches von den gelegentlichen Pop/Reggae-Tendenzen des neuen Labels offenbar nicht viel hält. Die zwölf Tracks entstanden im klassischen Duo Line-Up: Produzent Double-O kümmert sich um simpel-effektive Beatgerüste, während MC Naledge in der Tradition eines Nas oder Redman seine Verse droppt. Begleitet von einer hochkarätigen Riege an Gästen (von Black Milk über Little Brother bis hin zu Estelle) knackte man in den Staaten bereits diverse Bestenlisten. Wenngleich dazu die Barrack Obama-Euphorie bzw. der klare Support der beiden auf diversen Ebenen in gegenseitiger Bestärkung einen guten Teil dazu beigetragen haben dürfte. Doch selbst unabhängig davon bleibt - abgesehen von der enorm nervigen Hook in "Lucifers Joyride" - ein höchst formidables Werk.

Die Tatsache, dass mit Franken musikalisch längst (wieder) zu rechnen ist, bewiesen neben den begründeten Erfolgen von Robocop Kraus (samt Umfeld) im Independent-Sektor vor allem auch Boozoo Bajou. Mit deren letzten Longplayer endgültig zu stilistischen Grenzgängern etabliert, war ihnen die Aufmerksamkeit längst nicht nur von Liebhabern elektronischer Musik sicher. Und zwischen eben diese beiden Stühle setzen sich nun Wrongkong mit einem Debüt, welches tanzbar, rockig und elektronisch zugleich klingt. Die Nürnberger leben auf „Wrongkong“ (Modernsoul/Soulfood) ihren persönlichen, stilistischen Traum von Postpunk, Downbeat und Indiepop aus. Wobei die Devise sicherlich nicht war, die perfekte Platte zu machen – beim Entstehen der 13 Tracks stand offenbar der Spaß im Mittelpunkt. Und sie leben von Einsatz und Kreativität verschiedener Persönlichkeiten, welche durchaus Schlüsselpositionen in der aktiven Szene Frankens inne haben. Sängerin Cyrena Dubar aus Calgary beispielsweise hat gerade ein Engagement am Nürnberger Schauspielhaus, David Lodhi gab als Club Stereo Mitbetreiber bereits dem „sellfish tanzt“ Team ein temporäres zu Hause. Und beim Rest der Truppe lassen sich Querverbindungen von den wunderbaren Strike Boys bis hin zur renommierten „Wildstyle“ Party-Reihe ziehen. Genau so vielfältig klingt das Resultat in Albumform, welches sich dank Hits wie „Real Boys“ über kleine Umwege zur echten Sommerplatte mausern könnte.

Ob Techno, House oder Elektrorock: Zurzeit lohnt es sich als Anhänger tanzbarer Synthie-Beats, ein Auge auf Belgien zu werfen. Der dortigen Szene entspringen schier unzählige DJs, Produzenten und Labels, welche den Markt mit mehr oder minder hochwertigen Veröffentlichungen bereichern. Mit "Fuse Presents Adam Beyer" (Newsrecords) holte sich die agile Plattenfirma Newsmusic aus Gent jedoch eine Star der skandinavischen Szene ins Boot: Der Stockholmer Elektronik-DJ Adam Beyer kompilierte die aktuelle Episode der "Fuse Presents..." Serie. Und packte die 80 Minuten voller funktionstüchtiger Tracks, welche sich grob der von ihm mit inszenierten Banner "swedish House" untergliedern. Die Produktionen von u.a. Patrik Skoog, Braincell oder Mute allerdings dürften weniger Techhouse-affine Hörerschaften schnell überfordern; wenngleich man sich in der richtigen Stimmung mit dem uptempo-Material regelrecht in Hypnose tanzen kann...

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