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Immergut Festival 2007

++ der Nachbericht +++ der Nachbericht +++ der Nachbericht +++ der

 

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Das Handy kingelt und fragt: "Wo steckst du?" - "Ich bin im Tiergarten beim Zelt", antworte ich und schiebe hinterher: "Und wo bist du gerade?" - "Am Marktplatz", gibt das Telefon Auskunft und ergänzt: "um mein Bändchen abzuholen." Aha. Soweit so schizophren. Tatsächlich haben die Veranstalter des Immergut Festivals in diesem Jahr eine schlaue Neuerung eingeführt. Die beiden Campingplätze sind jetzt in "Stadtteile" gegliedert, das macht die Kommunikation einfacher und ist mal wieder Ausdruck für die liebevolle Detailarbeit, die das Immergut im Vergleich zu anderen Open Air Veranstaltungen sympathischer wirken lässt. Die Besucherzahl hält man konstant übersichtlich bei 5 000 Leuten, obwohl man wahrscheinlich weitaus mehr Tickets verkaufen könnte. Immer noch setzt man auf eine Mischung aus Indierock- und Pop, garniert mit einigen Bands, die immer öfter mal den Rahmen sprengen.

Auf richtig große Namen im Line Up muss das Publikum dabei dieses Jahr verzichten. Lange hat man auf potentielle Headliner wie Modest Mouse oder Arcade Fire gewartet, irgendwann wird im Vorfeld dann aber klar, dass Festivals Marke Southside eben finanziell am längeren Hebel sitzen und sich das Immergut anderweitig umschauen muss. So kann die Zusammenstellung auch nicht ganz mit den Jahren zuvor mithalten und trotzdem: enttäuschend geht anders.
Die traditionell gut gefüllte bis vollbesetzte Zeltbühne hat man dieses Jahr verkleinert und sich damit nicht viele Freunde gemacht. Breiter aber kürzer und damit angenehmer für die ersten Bands des Tages. Unerträglich aber später am Abend und bei Publikumslieblingen. Soweit die Ausgangslage. Es ist Freitag Nachmittag, der Einlass aufs Festivalgelände startet gleich und in wenigen Minuten werden wir uns Tele und Architekture in Helsinki zum Interview vorknüpfen. Ein weiterer Kollege brütet derweil noch über den Fragen, die er später Polarkreis 18 stellen will und am Samstag zerren wir dann noch die Shout Out Louds vor das Aufnahmegerät.

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17:30 Uhr. Das Wetter ist gut, das Bier kühl und wir wollen jetzt endlich Musik. A Hawk And A Hacksaw übernehmen den undankbaren Job und eröffnen das achte Immergutrocken Festival. Gefällt gut, könnte auf Platte besser funktionieren. Balkanfolklore minus Weltmusikcharakter. Musik von zwei Menschen, die sich nicht auf Multikulticharme verlassen, sondern auf ihre Fähigkeiten als Musiker. Dann aber schnell rüber ins bereits jetzt vollbesetzte Zelt, denn die gar nicht mehr so wirklichen Newcomer von Polarkreis 18 entern die Bühne. Falsche Uhrzeit, richtiges Publikum. Ein Auftritt von dem beide Seiten profitieren, den sich viele aber wohl wegen akuter Überhitzungsgefahr von außen ansehen müssen.

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Tele wiederum sind spätestens mit ihrem aktuellem Album "Wir brauchen nichts" auf den großen Bühnen des Landes angekommen. Ihre umarmenden Songs funktionieren überall, Francesco Wilking ist ein hervorragender Texter und überhaupt ist das genau jetzt und hier gut. Auch Friska Viljor scheinen Zeitpunkt und Ort zu Pass zu kommen. Das Zelt bebt, die Menge tobt, hier trifft jemand den Nerv der feierhungrigen Meute - das muss man neidlos anerkennen, selbst wenn man die Musik persönlich eher unter belanglos verbucht.
Superpunk
sind bekanntlich Stimmungsgaranten und stets Chef im Haus, egal wo egal wann. Diesmal aber, will das nicht so richtig funken. Man ist die verspulte Truppe fast ein bisschen müde geworden. Verpassen konnte man sie ja schlecht bei der Konzertdichte in den letzten Jahren. Eine Live-Pause täte Not. Andererseits: spätestens wenn das nächste Album da ist, will man doch wieder seine Dosis Superpunk. Dann aber wieder im kleinen Club bitte.

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Finn. besticht im Anschluss mit gewöhnungsbedürftigen Klamotten und wunderbarer Musik. Sphärisch prallt auf tanzbar und dazu schweben Luftballons durch das stickige Zelt, dass es eine Pracht ist. Wie Muse in klein und schöner. Architecture in Helsinki können später da anknüpfen, wo die Schweden Friska Viljor aufgehört haben und überzeugen mit ihrer treibenden Perfomance. Toll zu beobachten, wie sie die schönsten Popsongs zielgenau verhunzen und dennoch stellt sich die Frage, ob das jetzt clever und großartig ist oder ob da einfach Diletanten fehlendes Können geschickt vertuschen.
Weil ein Drittel des Jeans Teams mit Fieber im Bett liegt, haben die Veranstalter kurzerhand Muff Potter angerufen und als sich dieses Gerücht herumgesprochen hat, treibt es einem schon die Vorfreude in die Magengegend. Damit hätte man nach all den Jahren nicht mehr gerechnet. Frontrampensau Nagel wohl auch nicht, weshalb die gute Laune auf beiden Seiten des Wellenbrechers gleichmäßig verteilt ist. Es gibt ein Best Of aus altem und neuem Material und nach den Boxhamsters vor ein paar Jahren endlich mal wieder eine anständige Punkband auf dem Immergut. Die Spielfreude von Muff Potter steckt jedenfalls sofort an und ab diesem Moment ist es unmöglich die gereckten Fäuste und Bierduschen zu zählen.

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Danach kann man eigentlich nur verblassen. Außer man heißt Seidenmatt und spielt einen der besten Auftritte des Festivals. Endlich die richtige Bühne für diese hervorragende Band. Viele sind enttäuscht. Weil sich nach der Absage von Explosions In The Sky dann doch keines der zahlreichen Gerüchte bestätigt und weder Hype-Band X noch Y auftaucht. Aber SDMT wissen was sie tun. Sie nutzen die Gunst der inzwischen dunklen Stunde und feiern sich und das Festival auf der großen Bühne. Diverse Freunde, Gastmusiker und am Ende sogar Veranstalter werden auf die Bühne geholt, um eine fantastische Postrockshow zu zelebrieren. Vielleicht die Überraschung des Tages, obwohl man um die Qualitäten dieser Band ja bereits wusste.

Schade, dass der sehr geschätzte Tobi Kuhn aka Monta danach viele zum Zeltplatz langweilt, bevor Naked Lunch nochmal zum großen Wurf ausholen. Das ist Melancholiepoppower, wie sie nur wenige hinbekommen. Erobique kämpft danach entschlossen gegen Müdigkeit und die behördlichen Auflagen an und rockt nochmal alle kaputt, die vom langen Tag noch nicht geplättet sind.

Tag zwei here we go. Lichter und Sir Simon Battle machen den Anfang und zählen zu den jungen Wilden, die es zu beobachten gilt. Wird man sicher noch einiges hören. Erstere laben sich an Indierock, der meist gerade aus nach vorne geht, aber immer wieder schöne Haken schlägt und Simon erfreut sich offensichtlich am gitarrenlastigen Indiepop. Ein Typ mit Weakerthans-Attitüde und viel Potenial. Genau wie Someone Still Loves You Boris Yeltsin, die eine hervorragende Platte gemacht haben, aber live immer ein bisschen unsympathisch rüberkommen. Schade eigentlich. Auch, dass einen Ragazzi zum wiederholten Male nicht überzeugen können. Ganz im Gegenteil zu Malajube, die uns ihre abgefahrene Mischung aus Indiepop, Keyboardrock und Posthardcore um die Ohren hauen. Das alles mit französischen Texten und viel Bärten und Schweiß unter den Wollmützen. Zum Glück kommen die bald wieder auf Tour.

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Auf Tour wird das Tied & Tickled Trio wohl eher selten gehen, dabei bietet das gefühlt hundertste Seitenprojekt aus dem Notwist-Umfeld perfektes Kopfkino, dass auch an diesem Immergut-Samstag gut funktioniert. Trotzdem wird es nun endlich mal Zeit für das nächste Album der Hauptband. Mit eben so einem schaut Kristofer Aström vorbei und stellt dieses auch ausgiebig vor. Funktioniert live trotz neuer Band leider immer noch nicht so wie auf Tonträger. Ärgerlich, denn was melancholischen Songwriterpop betrifft, macht dem schwedischen Einsiedler keiner so schnell was vor.

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Erst recht nicht Virginia Jetzt! aber das ist sowieso eine andere Baustelle. Wer es sich danach auf dem Zeltplatz gemütlich einrichtet, könnte fast denken The Cure hätten sich nach Neustrelitz verirrt. Haben sie aber nicht, vielmehr tänzeln die Shout Out Louds über die Bühne und liefern richtig gut ab. Sagen zumindest diejenigen, die der Band auch auf Albumlänge einiges abgewinnen können.
Robin Proper-Sheppard aka Sophia hat bekanntlich zwei Gesichter: Eines will laute, ausufernde Rockbretter zimmern, das andere versucht sich am perfekten Akustikpopsong. Diesmal kommt er ohne Band und ohne Stromgitarre, dafür mit Streichern und noch mehr Pathos. Und das kann anstrengend sein. Da schon lieber Tocotronic, die dem hungrigen Publikum einen guten ersten Eindruck von "Kapitulation" bieten. Besser waren sie vielleicht nie. Auf Platte. Live schon. Das macht aber nichts, denn das ist nur eine Momentaufnahme, welche zu keiner Sekunde an ihrem eigenen - von Fans und Kritikern bereits zu Lebzeiten errichteten - Denkmal kratzt.

Als Abschluss gib es wie gewohnt Disko im Zelt mit King Klatsche und Uwe Viehmann. Das macht nur teilweise Spaß, denn auf einen guten Song folgen zweimal Ballermann und während die Idee Backstreet Boys zu legen eine ausgezeichnete ist, kann Blurs "Song 2" nur ein schlechter Scherz sein. Oder ist das schon wieder so weit draußen, dass man es nicht verstanden hat? Da muss man ausnahmsweise mal den fies-reaktionären Scheißsatz loslassen: "Das war früher auch mal besser!" Im Gegensatz zum Immergutfestival. Das ist immer noch und immer wieder super. Auch wenn es sich im nächsten Jahr an einigen Punkten wieder etwas steigern darf. Bis zum nächsten Mal dann du bezauberndes Freilufterlebnis.

Text: Sebastian Gloser
Fotos: Hajo Möller


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