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iForward Russia! Interview

"You Left-Wing Bastards"


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Tom wirkt ein wenig entsetzt: "Sieht ganz Hamburg so aus? So wie die Reeperbahn?" Nein, zum Glück nicht. Aber es wirkt gelinde gesagt überraschend, wenn das der Frontmann einer so schmutzigen und wilden Post-Wave-Core Band wie iForward Russia! sagt. "Sieht das in Leeds nicht so aus?" frage ich ihn. Er wirkt belustigt. "Doch. Aber es gibt kein Rotlichtviertel. Jedenfalls keines wie die Reeperbahn!" So ist das also, es sind die Sex-Shops, die ihn irritieren. "So viele, ich verstehe gar nicht was das soll! Und dann trotzdem noch so viele Clubs und Konzerthallen!" Der Weg zum Tourbus ist mit Kippenstummeln, Obdachlosen, streunenden Katzen, Pisse, Burger-Resten, Papier, Kaugummis und anderem Dreck gepflastert. Als wir den Tourbus erreichen, atmen Tom und Katie hörbar ein wenig durch. Die Reeperbahn bei Tageslicht ist wirklich kein schöner Anblick..

2004 in Leeds gegründet, erzählt sich die Geschichte der vier Musiker schnell in wenigen Schlagworten: eigenwillig, NME, Toursupport für die Editors, NME, eigenwillig, "Give me a wall" (das Debütalbum), eigenwillig, Headliner-Tour durch Europa. Das ist der Ausgangspunkt für unser Interview im Tourbus, der mich irgendwie an den Tourbus von Art Brut erinnert, was daran liegen mag, dass sich Tourbusse nunmal ähneln. Katie und Tom sind gesprächig. Ein Glück..

Reicht euch die Bühne des Molotow für eure Live-Ambitionen?
Katie: Oh, wir haben schon auf viel kleineren Bühnen gespielt!
Tom: Wir waren mal in einem Club in Cambridge, der nennt sich "Soul Tree". Du hast keine Ahnung was eine kleine Bühne ist, bis du die gesehen hast! Aber letztlich ist die Größe vollkommen egal, solange Menschen da sind, die deine Musik mögen. Klar, ohne Frage macht es Spaß in großen Konzerthallen zu spielen. Aber wenn die Begeisterung der Besucher die gleiche ist, kann mir die Bühne herzlich egal sein! Außerdem ist uns klar, dass wir nicht gerade massenkompatible Musik machen. Die Bühnen werden also niemals rießig sein! Wir können über jeden Erfolg froh sein, den wir haben, ohne Kompromisse eingehen zu müssen.

Ihr habt unter anderem als Support für die Editors gespielt. Habt ihr euch da wohl gefühlt?
Tom: Am Anfang war das hart für uns. Wir waren ja auch bei dieser NME-Tour dabei. Die Bühnen waren im vergleich schon ziemlich groß. Nur in Brixton Academy zu spielen hat wenig Spaß gemacht. Du bist als Band so weit vom Publikum entfernt, dass du nichtmal mehr die Gesichter in der ersten Reihe erkennen kannst. Wenn wir das jede Nacht hätten, würden wir uns daran gewöhnen.
Katie: Man sieht nicht nur das Publikum nicht, man kann auch nicht mit ihnen interagieren. Zwischen der Bühne und dem Publikum sind Bühnenrand, Security, ein Graben, eine Sicherheitsabsperrung - du spielst im Grunde für dich allein.
Tom: Manchester Appolo ist so ein Fall.

Ich bin heute abend hier mit zwei Freunden, die eure Musik nicht kennen. Ich hatte arge Schwierigkeiten ihnen begreiflich zu machen, wie ihr euch anhört. Welchen Versuch hättet ihr unternommen?
Tom: Puh, schwierige Frage. Wenn ich es visualisieren müsste: Glas. Zerbrochenes Glas. Broken Glass on something beautiful!

Inzwischen dürften alle wissen, dass ihr mit Rußland absolut gar nichts am Hut habt. Gibt es immernoch Menschen, mit denen ihr konfrontiert werdet, die das glauben?
Tom
: Haufenweise. Neulich erst, in Stockholm. Ich glaube, er war schon sehr betrunken. jedenfalls fing er an zu grölen: "Fuck Russia! Forward USA! You Left-Wing bastards!" Sehr amüsant. Und in New York kam beim Ausladen der Instrumente ein Obdachloser auf uns zugewankt. Er sah die Beschriftung und fing an zu zetern: "Fuck Russia, I'm polish! Fuck you, you are russian!" Und wir antworteten: "Hey wir sind gar nicht aus Rußland!" Aber das hat ihn nur noch wütender gemacht. "Fuck Russia. Get back to the garbage where you belong."
Katie: Es hat auch noch einen weiteren Nachteil. Die Spambots attackieren unsere Website mit E-Mail-Spam über russische Viagra-Pillen und weiß der henker was noch. Alles auf russisch natürlich..

Die Musikpresse beschriebt euch als "einzigartige", "außergewöhnliche" Band. Ist das gut fürs Ego?
Tom: Definitiv! Aber es ist für unser Ego schon ausreichend, wenn man uns nicht als weitere Bloc Party abstempelt! Es fühlt sich gut an wenn andere Menschen scheinbar den Eindruck haben, dass wir etwas "unique" machen. Das war ja auch unsere Absicht.

Könnt ihr euch noch daran erinnern, wie es war, die Menschen zum ersten mal auf der Bühne mit dieser Art von Musik zu konfrontieren?
Tom: Ja. Das war ironischerweise bei einem Kaiser Chiefs Konzert in Leeds. Wir haben vier Songs gespielt und die Leute habe uns bloß verständnislos angeglotzt. Damals haben wir ja auch noch komplett auf irgendwelche Pop-Strukturen verzichtet. Das war ja pures Chaos. Das war auch noch zu einer Zeit, als selbst die Kaiser Chiefs kein Schwein kannte. Wir hatten nicht einmal einen Bandnamen. Das komplette Chaos.

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Ist es nicht merkwürdig, dass 30 Jahre nach den Sex Pistols Menschen immernoch geschockt sein können von, in ihren Ohren, "verstörender" Musik?
Katie
: Das ist ja gerade das Problem. Selbst vermeintliche "Indie"-Hörer sind so starr in ihrem musikalischen Horizont, dass sie sich auf neues gar nicht einlassen können.
Tom: Daran haben die Mayor-Labels großen Anteil. Sie könnten künstlerisch wertvollere Bands pushen und veröffentlichen. Aber sie tun es nicht. Manchmal ist es eben doch am leichtensten, ein verfluchtes Razorlight-Album zu veröffentlichen.

Ihr habt trotz allem Anspruch auch die Popelemente nicht verdrängt in euren Songs. Warum?
Tom: Ich liebe Popmusik. Es ist eine Form der Musik die wir mögen, deswegen ist sie auch ein Element in unserer Musik

Ich las in einem Interview, dass ihr lieber heute als morgen ein neues Album machen würdet!?
Katie: Ja, wir touren so viel, dass es uns einfach ins Studio zieht. Früher haben wir jeden Monat ca. drei bis vier neue Songs geschrieben. Das geht im Moment einfach nicht. Die wenige zeit, die wir zum Songschreiben haben, reicht nur aus, um sich auf einen Song zu konzentrieren. Es fällt uns sehr schwer auf Tour zu schreiben. Du kannst nur Fragmente bearbeiten, kleine Ideen. Dieser "Creative Burst" fehlt uns manchmal sehr. Ich schätze im Januar werden wir neue Sachen schreiben. Vielleicht nicht gleich aufnehmen, aber uns einfach selbst das Gefühl zu geben, dass etwas auf dem Weg ist, dass es nicht stagniert.

Ist das ständige Touren eine Inspiration?
Tom
: Kann ich noch nicht sagen. Wir haben noch keine neuen Songs geschrieben. Seit wir auf Tour sind und all diese Impressionen auf uns einstürmen haben wir uns noch nicht hingesetzt und neue Songs geschrieben. Wer weiß, vielleicht führt es auch zu einer völligen Schreibblockade. (lacht)

Ihr habt immer wieder betont, wie wichtig es euch war, etwas neues zu schaffen. Wie fühlt sich das jetzt an, nachdem man das "neue" immer und immer wieder bei über 200 Gigs gespielt hat?
Tom (lacht): Für uns ist das natürlich ganz und gar nicht mehr neu. Obwohl wir natürlich jeden abend mit der Motivation auf die Bühne gehen, etwas neues zu bieten. Außerdem ist uns auch bewußt, dass für die meisten Menschen, die unsere Konzerte besuchen, genau das etwas neues ist!
Katie: Für uns gibts es dennoch Variationen. Jede Bühne ist anders, jedes Publikum. Da muss man sich drauf einstellen, da kann man nicht auf die gewohnte Weise die Songs herunter rattern.

Ich muss euch trotzdem eine Frage stellen, die ihr schon hundertmal gehört haben müsst ...
Tom: The Numbers?

Nein, ausnahmsweise nicht.
Tom: Leeds?

Exakt! Wie kommt das. Braucht die Presse jedes Jahr eine neue musikalische Großstadt?
Tom
: Die Presse braucht vor allem ständig eine neue Szene!

Ist das nicht ganz schön frustrierend? Schließlich gibt es doch diese Szene schon seit Jahren!?
Tom
: Das interessante war ja, dass genau zu dem zeitpunkt, als die Presse Leeds für sich entdeckte, auch wirklich ein Haufen neuer Bands sich formierte und großartige, neue Musik spielte. Viele Bands wurde ironischerweise genau dann gut, als sich die leute für sie zu interessieren begannen. Vielleicht ist die Aufmerksamkeit nur ein glücklicher Zufall, wer weiß.
Katie: Als Bands wie die Kaiser Chiefs aus Leeds richtig bekannt wurden, hat das vielen kleinen, unbekannten Bands Auftrieb gegeben. Sie haben Selbstvertrauen getankt, was sehr wichtig ist für das bestehen einer musikalischen Szene! Viele merkten plötzlich: wenn wir wirklich eine Band sein wollen, dann können wir das auch schaffen! Die (Kaiser Chiefs, The Cribs) haben es ja auch geschafft!
Tom: Viele suchen nach einer Entschuldigung, nicht hart arbeiten zu müssen. Und das geht spätestens dann nicht mehr, wenn die Band einen Proberaum neben dir plötzlich bekannt wird. Dann kannst du es nicht mehr auf irgendwelche externen Faktoren schieben.

Fühlt ihr einen gewissen Lokalpatriotismus, was Leeds angeht?
Tom: Ich definitiv! Als ich noch in Leeds gewohnt habe und wir nicht getourt sind, hat es mich einen Scheiß gekümmert. Aber jetzt, wo ich nie da bin, fehlt es mir höllisch. Ich möchte eigentlich nirgendwo anders auf der Welt leben!

Was die Engländer abends auf die Bühne zaubern, ist ein radikales, tanzbares, wütendes Infernal und überfordert zu Teilen das Publikum ein wenig. Alle vier tragen auf der Bühne ihr eigenes Bandshirt: weiß, darüber das schwarze Logo. Bei Whiskas, dem Keyboarder und "Shouter" (als den ihn die Band-Bio ausdrücklich ausweist) ist das Logo schon so verblichen, dass man es gar nicht mehr identifizieren kann. Ein wenig stolz ist er schon darauf. Irritierend ist an diesem Abend auch Toms exaltierte Bühnenshow. Der Gute stranguliert sich permanent selbst mit dem Mikrophonkabel und nicht selten braucht er einige Sekunden, um sich aus diesem Wirrwarr wieder herauszuaalen. Auch seine The Killers Anspielungen (nach der Show ist eine Releaseparty) verwirren mehr als sie wohl sollen. Macht nichts. Am Ende der Show ist jeder zufrieden.

Interview + Text: Robert Heldner
Fotos: Pressefreigabe


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