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Nagel

Wo Die Wilden Maden Graben

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Manchmal wünscht man sich eine Kamera im Kopf, die unablässlich Eindrücke sammelt und diese später zu einem vernünftigen 90 Minuten Hollywoodschinken verarbeitet. Mit der richtigen pathetischen Musik an den richtigen pathetischen Stellen um Leben.
Etwa wenn man frisch verliebt durch die Straßen seiner Stadt läuft und einem der spießbürgerliche Mief plötzlich gar nicht mehr so spießbürgerlich vorkommt. Oder wie man völlig aufgelöst in der Mitte einer Menschenmenge steht, frisch von der Freundin verlassen, auf einem der besten Konzerte aller Zeiten. L.Y.B.E., jaja. Nagel, Sänger und Songschreiber der Band Muff Potter, hat auch keine Kamera in seinem Kopf. Aber zumindest hat er ein gutes Erinnerungsvermögen. Vor allem an die letzten paar Jahre, in denen er mit seiner Punkrock-Band durch Deutschland, Schweiz und Österreich getourt ist. Er hat das nicht zu einem Hollywood-Film verarbeitet, wohl aber zu einem Roman. Ein Roman, der eigentlich kein Roman ist, sondern ein Tourtagebuch. Ein Tourtagebuch, was kein Tourtagebuch sein will. Man sieht schon die Miesere: Nagel hängt fest zwischen dem ambitionierten Versuch, ein Buch über seine Sozialisation zu schreiben, und trotzdem den unterhaltsamen Aspekt einess Tourtagebuchs zu erhalten. Er scheitert nicht kläglich, dafür ist er einfach ein begnadeter Spektator, ein mitreißender Pessimist. Wohl aber ist das Experiment als gescheitert anzusehen, stellte man ihn ins selbe Regal mit Bukowski oder Kerouac. Aber das würde sich Nagel ja auch nie anmaßen. Deshalb soll "Wo die wilden maden graben" in erster Linie unterhaltsam sein, eine Bestandsaufnahme des Tourlebens, der Freundschaft, manchmal Feindschaft, viel Missmut, nochmehr Freude an der Musik - es geht eben Turbulent zu in Nagels Leben. Vom Kleinstadtpunk zum angesehenen Rockmusiker. Und nach der Tour: Minijobs, karge Existenz, selbst ausgesucht. Am besten ist Nagel immer dann, wenn er die Kleinstädte seziert, die Jugendzentren (die gutes Catering betreiben), die miesen Aftershow-Discos (weil keiner zu guter Musik tanzen will), die rüde Punkvergangenheit (inklusive Prügeleien und unglücklichen Unfällen). Man spürt, worin Nagels dringlichstes Bedürfnis besteht: im Herausschreien. "Nackt und roh in drei Akkorde gehüllt", wie er auf dem letzten Muff Potter Album "Von Wegen" sang. Man verschlingt das Buch. Und es macht Lust, sich mal wieder von vorne bis hinten mit der Muff Potter Diskographie zu beschäftigen. Also reiht sich "Wo die wilden Maden graben" am Ende doch neben "Der Mann mit der Ledertasche" ein. Die reine Lust am Lesen. Schön ist das.

-- / 237 Seiten / 12,90 € / Roman

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