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Immergut Festival 2006

Wir sind alle nur zum Leben hier.

 

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Sieben Jahre alt ist das Immergut Festival in diesem Jahr geworden. Während ein Mensch damit noch nicht einmal das Teenageralter erreicht hätte, ist man mit einem Festival mindestens schon mitten in der Pubertät oder vielmehr schon erwachsen. Entwachsen ist man dem ganzen aber noch lange nicht und so ist es erfreulich, dass (Mit)Veranstalter Kemper im Vorwort des Festival-Begleithefts trotz aller Melancholie betont: „Aber satt sind wir noch lange nicht.“

Über die Jahre hat sich das Immergut als konstant geschmackvolle Marke etabliert, die aus dem Veranstaltungskalender nicht mehr wegzudenken ist. Weil das Festival mit seinen hübschen Merchandiseartikeln, dem wunderbaren Begleitheft und all den liebevoll gestalteten Details auf der Homepage und dem Festivalgelände aber vielmehr ist als eine Marke und es in erster Linie um die Menschen vor, auf, neben und hinter der Bühne geht, muss man dem Autor dieser Rückblende wie im letzten Jahr verzeihen, dass der Artikel etwas subjektiver daher kommt, als so manch andere Platten- oder Konzertkritik. Nicht ohne Grund musste ich als überzeugter Geburtstags- und Silvestermuffel vor Kurzem mit einer Freundin feststellen, dass das neue Jahr immer erst Ende Mai beginnt.

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Auch wenn sich 2006 das fantastische Wetter der letzten Jahre nicht wiederholen konnte und so mancher Regenschauer über Neustrelitz hinwegzog, die Stimmung war wunderbar und ausverkauft war das 5000er-Festival sowieso schon lange. Dafür hatten wohl in erster Linie die Headliner Tomte (Samstag) und die Yeah Yeah Yeahs (Freitag) gesorgt. Publikumsmagneten wie Mia., Art Brut oder ein Klassiker wie Blumfeld dürften ebenfalls dazu beigetragen haben, dass die Tickets in diesem Jahr wohl noch schneller weg waren, als in den Jahren zuvor.

Spannend wird es beim Immergut ja aber bekanntlich vor allem immer dann, wenn die einen noch nicht mal aus ihren Zelten gekrochen sind oder sich die Headliner backstage schon wieder ordentlich der Feierei hingeben. Deswegen beschäftigen sich die folgenden Zeilen auch zum Großteil mit Bands, die sich bei der Abstimmung über den besten Auftritt eher im Mittelfeld befinden. Und nun genug der Vorworte: Das Immergut 2006 auszugsweise in Wort, Bild und Gegenwart (weil lebendiger).

Keine Ahnung, wer ganz am Ende, wenn alle Bands gebucht sind, darüber entscheidet, wer nun wann und wo auftritt. Zumindest für die jeweiligen Opener des Tages kann es nie ganz gerecht zugehen, vielleicht wird da beim Immergut-Team auch einfach gewürfelt. Midlake jedenfalls haben die Ehre und zugleich schwere Bürde das Festival auf der Hauptbühne zu eröffnen. Geschmeidiger Folkpop trifft auf gutes Wetter und viel Applaus seitens des bereits zahlreich anwesenden Publikum. Die wunderbaren - leider vor Kurzem aufgelösten - Grandaddy kommen einem da in den Sinn oder die Flaming Lips ohne Wahnsinn. Sechs Herren, die vor allem mit Gitarren und jeder Menge Tasteneinsatz schlichte, aber durchaus bezaubernde Songs in die Menge schubsen, wo sie herzlich aufgenommen werden. Im Hintergrund ziehen weiße Wölkchen vorbei, es herrscht eine entspannte Atmosphäre und schnell wird klar: Das hier hat nichts mit Würfeln zu tun, Midlake machen als Opener absolut Sinn.

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Auch die Tatsache, dass Klez.e im Zelt spielen ist mehr als sinnvoll. Die Berliner sind nun mal nicht die geborene Festivalband, sondern eignen sich vielmehr für die Clubs oder düsteren Hallen und damit lässt sich die Zeltbühne zuweilen ja noch vergleichen. Indierock deutscher Schule paart sich hier mit britischer Experimentierfreude à la Radiohead oder großen Popmomenten, wie sie Coldplay vor allem zu Anfangstagen noch zelebrierten. Das Quintett feiert an diesem späten Nachmittag seine Immergut-Prämiere und überzeugt dabei auf ganzer Linie. Es gibt Stücke vom Debüt „Leben Daneben“ und einige Kostproben des kommenden Albums „Flimmern“, welches Anfang August erscheinen wird. Klez.e haben nicht viel Spielzeit, nutzen diese aber voll aus: Das Indierock-Brett „Du auch“ gibt es genauso zu hören, wie das bald erscheinende „Dein Universum“. Fantastisch, wie die peitschenden Gitarren auf kleine Klaviermelodien oder feinste Elektronik treffen.
Das Publikum bedankt sich mit unerwartet viel Begeisterung zur frühen Stunde, was wohl auch daran liegt, dass sich kurz vor Ablauf der Spielzeit Klez.e auf der Bühne zu ihrer Schwesterband Delbo (trans)formieren und sogar noch ein Stück vom neuen Werk „Havarien“ spielen. Instrumente werden getauscht, Musiker ebenfalls und plötzlich steht Gitarrist Tobias Siebert mit seiner zweiten Band auf der Bühne und intoniert den Schlussakkord „Départ“ inklusive Ziehharmonika, Schachtelsätzen und einem leidenschaftlichen Bassspiel. Geplante Anarchie, die bereits einen frühen Höhepunkt setzt und es nicht einfach macht für alle, die an diesem Tag noch folgen.

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Pale zum Beispiel entern zwei Stunden später die Zeltbühne und müssen die Kollegen erst einmal überbieten, obwohl ihnen als Immergut-Stammgast diverser Fan-Zuspruch fast sicher ist. Seit Kurzem hat man mit dem Grand Hotel van Cleef eines der zurzeit beliebtesten deutschen Indielabels im Rücken, was wohl auch ein Grund dafür ist, dass sich die fünf Mannen sichtlich wohl in ihrer Haut fühlen. Emo, Indierock, whatever, spielt alles keine Rolle, Pale sind jedem Zweifel erhaben und trotzdem artet der gefeierte Auftritt etwas zu sehr in Posen und aufpeitschende Ansagen aus. Man ist sich fast sicher, dass das kommende Album großartig wird, man kann es heute nur noch nicht wirklich erkennen. Schade eigentlich, zumal der bereits bekannte Hit „Hello, Lucky Thing“ doch zunächst sehr versöhnlich gestimmt hat. Erkenntnis: Lieber auf die nächste Clubtour warten.

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Die Serie der Geheimtipps setzt sich am Freitag Abend immer weiter fort. Bevor die Instrumental-Alleskönner von Gregor Samsa die Zeltbühne entern, gibt es dort The Appleseed Cast aus Kansas zu sehen, die mit dem aktuellen Album „Peregrine“ wieder einen Meilenstein zwischen treibendem emotionalen Rock, dichten Soundgewändern und Noiseattacken vorgelegt haben. Freunde von Sonic Youth, Sometree oder Emo der alten Schule ohne Makeup und Geschrei hätten ihre wahre Freude an dieser Band, der immer noch viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Ein packendes, schepperndes Schlagzeug heiratet einen Bass und zwei Gitarren, die wunderschöne Laut-Leise-Malereien hervorbringen. Die Effektgeräte dröhnen bis zum Anschlag und obwohl die Songs aufwendig und intelligent arrangiert sind, ist die Musik von The Appleseed Cast vor allem etwas für Herz und Bauch. Bei einem älteren Stück wie „Fight Song“ werden dann sogar noch die Beine angesprochen, bis einem immer wieder die tieftraurige Zeile „This is the end / the end of you and me“ um die Ohren geknallt wird. Wie eine perfekt inszenierte Oper endet der Auftritt mit einem mitreisenden Instrumentalstück, welches wohl sogar den letzten Skeptiker mit in den Strudel der Gefühle zieht.

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Zeitsprung. Es ist Samstag Nachmittag und über Neustrelitz tobt sich das wildeste Aprilwetter aus, obwohl sich doch der Mai schon dem Ende zuneigt. Während das Immergutzocken-Fußballtunier noch völlig verregnet ist, haben die ersten Bands noch Glück und kein kühles Nass zu beklagen. Anders als die kanadische Fraktion um Stars-Sängerin Amy Millan und ihren Broken Social Scene-Kollegen Jason Collett, die schon wieder mit ersten Tropfen kämpfen müssen. Beide sind sie gekommen, um ihre Solowerke vorzustellen. Beide favorisieren eher ruhigen Gitarrenpop mit Country-Einschlag und beide Auftritte hinterlassen ein wenig den Eindruck, als wären beide samt Begleitband nicht so richtig aus den Puschen gekommen. Wenig druckvoll und uninspiriert wirken die Nummern von Amy Millan, die dennoch wie immer mit ihrer eindrucksvollen Stimme überzeugen kann. Es bleibt abzuwarten, was das bald über City Slang erscheinende Soloalbum zu bieten kann.
Jason Collett ist da schon weiter und stellt seine Kompositionen nicht zum ersten Mal in Deutschland vor. Neben einigem Leerlauf gibt es bei ihm immerhin einige Hits zu entdecken: „We All Lose One Another“, „I’ll Bring The Sun“ und „These Are The Days“ heißen die und finden sich alle auf „Idols Of Exile“ wieder. Dennoch bleibt am Ende ein etwas müder Gesamteindruck haften und die Hoffnung auf Besserung beim Auftritt der Hauptband.

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Gerade als sich das Publikum Richtung Zelt bewegt, hört draußen der Regen auf. Dafür blasen Okkervil River auf der kleinen Bühne zum großen Sturm. Die Band aus Texas, die man gut der Saddle Creek-Szene zuordnen könnte, bittet zum ganz großen Tanz aus Melancholie, Wut, Angst, Trauer, Feuer und noch viel mehr. Hier mal ein wenig Bright Eyes, dort eine Spur lauter und mehr in Richtung The Good Life und dann wieder nichts von all dem. Hier gibt es die großen Melodien, die herzzereisenden Momente, die nicht getroffenen Töne und vor allem die ganz große Stimmung. Trompete, Akustikgitarre, Tasten, Samples und punkiges Schlagzeug bei Okkervil River ist alles drin und nicht einmal der Soundcheck von Mia., der auf der Hauptbühne parallel einsetzt, kann die sechs Künstler aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil: Sie ziehen sich daran hoch, setzten dezente Pointen und werden sogar unter tobendem Applaus zu einer Zugabe gezwungen. Ein eher festivaluntypisches Ereignis, das nur noch einmal die Größe der Band und des Auftritts unterstreicht. Ganz großes Gefühlskino, welches seit langer Zeit mal wieder Gänsehaut hervorruft und für viele den besten Auftritt des diesjährigen Immergut markiert.

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Und dann darf und muss man doch noch einmal auf Tomte zu sprechen kommen. Bereits zum vierten Mal betritt die Band Neustrelitzer Festivalboden. So wie das Immergut sind auch Tomte konsequent gewachsen. Lag Thees Uhlmann beim ersten Besuch noch mehr auf der Zeltbühne, als dass er am Mikrofon stand, steht er heute auf der großen Bühne und ist sichtlich gerührt, wie viele Menschen seine Band sehen wollen. Tomte sind so sehr gewachsen. Musikalisch, menschlich, personell und hatte Uhlmann damals im Suff noch Textzeilen vergessen, erhebt er heute seine Stimme, um aus vollem Halse mit „New York“ oder „Ich sang die ganze Zeit von dir“ seine Liebeserklärungen an verschiedenste Mitmenschen auszudrücken. Er ist dankbar für alles und zeigt das auch. Was bei anderen pathetisch und aufgesetzt wirkt, klingt bei ihm ehrlich und deswegen sorgt „Mit dem Mofa nach England“ für unbeschreibliche Augenblicke. Wie kleine Explosionen zwischen den ganzen alltäglichen Gefühlen. „Die Schönheit der Chance“ als krönender Abschluss wirkt wie ein Symbol für den Aufstieg einer Band, die es „geschafft“ hat. Nicht weil sie soundsoviele Platten verkauft, sondern weil sie oben beschriebene Entwicklung vollzogen hat.

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Direkt im Anschluss beschließt die bezaubernde Leslie Feist im Zelt die Reihe der Soloauftritte einzelner Broken Social Scene-Mitglieder mit einer Lehrstunde in Sachen Bluesrock, die sowohl stimmlich als atmosphärisch ihres Gleichen sucht.
Zusammen mit ihren unzähligen Freunden und Kollegen hat sie dann wenig später die Ehre das Immergut Festival 2006 auf der Hauptbühne zu beenden. Broken Social Scene haben offensichtlich nicht nur die Zeit und den Rausch ihres Lebens. Sie spielen auch noch als gäbe es kein Morgen mehr und als ob niemand am nächsten Tag noch die Zelte abbauen müsste. Fließend gelingen die Übergänge zwischen den elementaren Songs der letzten beiden Alben. Indie, Drum’n’Base und Pop geben sich die Hand. Zwei bis vier Gitarren jagen sich gleichzeitig über die Bühne, bevor die Bläserfraktion den nächsten Richtungswechsel einleitet. Jason Tait von den Weakerthans hilft bei der Percussion aus und am Gesang betätigen sich sowieso alle. Dank Verspätung und mangelnder Erschöpfung seitens der Band dauert das Schauspiel aus Noise und feinsten Melodien bis in die späte Nacht an und liefert den letzten - obwohl längst nicht mehr nötigen - Beweis, dass Kanada im Moment nicht nur unglaublich viele Hippies, sondern auch unwahrscheinlich viel gute Musik hervorbringt.

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Damit ergibt sich - zumindest bei mir - seit 2004 das selbe Fazit: Nächstes Jahr wieder. You’ll bring the bands, I’ll bring the sun, wenn wir wieder mit einigen Busladungen aus dem Süden anreisen. Danke Immergut! Und danke auch dem Grand Hotel van Cleef, dass sie dieses Jahr wieder den hervorragenden Sampler zum Festival herausbringen.
Zu kaufen gibt es den seit dem 26.5. überall und wir verlosen davon zwei Exemplare, wenn ihr uns sagen könnt wie viele Mitglieder von Broken Social Scene auf dem diesjährigen Immergut Festival einen Soloauftritt hatten. Antwort mit Betreff ‚Immergut top of the pops’ bitte an diese Adresse: sebastian.gloser@sellfish.de.


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