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Jahresrückblick 2007, Teil I:

Die Sellfish-Werkschau

 

Die Zeit der Jahresrückblicke erstreckt sich gewohnheitsgemäß über mehrere Wochen. Was die Weihnachtsdekoration für den Einzelhandel ist, scheint das Verfassen von Listen und Rückblicken für jedes noch so kleine Musik-Magazin zu sein. Das ist bei Sellfish nicht viel anders. In mehreren Teilen wollen wir uns der Rückschau widmen.

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Sellfish Print Cover

Das Jahr begann mit einem Knall. Klar, Silvester, aber viel wichtiger für uns: die Printausgabe nahm immer deutlichere Züge an. Dank einiger konspirativer Treffen, dank der Unterstützung von Labels, dank der Unterstützung von Freunden und vor allem: dank unserer Gestalterin Verena. Da saßen wir nun, beim Griechen um die Ecke, und bastelten, überlegten, verwarfen und konzipierten neu. Wichtig war uns von Anfang an, den großen Musikmagazinen keine Konkurrenz machen zu wollen. Wie hätten wir auch. "Sellfish Print" sollte eine Werkschau sein - eine Zusammenfassung aller wichtigen Interviews der letzten sechs Sellfish-Jahre. Und da war ja einiges zusammengekommen: Tomte, The Lost Patrol Band, Heinz Strunk, Art Brut, Pipettes, The National, Nada Surf. Kleine und große Namen des Indie-Showbusiness also. Schön gestaltet auch 47 Seiten Hochglanz. Inklusive denkwürdigem Rückseiten- und diskussionsreichem Cover-Artwork. Rückblickend allerdings lässt sich sagen: die Arbeit hat sich gelohnt. Und wir blicken voller Vorfreude auf die nächste Ausgabe, die kommen soll und wird. Nur wann, das steht noch in den Sternen.

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Jamie T am Regler

Bis zum Release der Print-Ausgabe sollte es aber noch dauern. Auf dem Weg dahin sollten uns viele großartige Alben und Interviews begleiten. Im Januar war das Naked Lunch, zu deren "This Atom Heart Of Us" wir uns rührselig gaben. "Jetzt erstmal die Tränen wegwischen. Und nochmal "Military of the Heart" hören." Tja, so berührt hat Jamie T nicht. Der hat aber andere Stärken. Zum Beispiel die, binnen weniger Wochen zum absoluten Super-Hype geupgraded zu werden. Mit den Wochen wuchs der Ruhm und schrumpfte unsere Aussicht auf ein ausführliches Interview. Am Ende blieb von der versprochenen halben Stunde noch ganze 10 Minuten übrig. So ist das eben, wenn plötzlich auch der Spiegel anklopft und mit dem Lo-Fi-Wunderknaben sprechen möchte. Trotzdem war Jamie T aufschlussreich. Und wurde auf die Frage, was er denn davon halte, dass ihn alle Welt plötzlich als Genie bezeichnet, sogar richtig ärgerlich: "Bollocks! Ich habe doch nur ein paar Songs geschrieben, mehr nicht! Wer weiß, ob die mich auch in Zukunft noch als Genie bezeichnen ... Naja, selbst wenn sie meine Musik hassen würden, könnte ich nicht damit aufhören!"

Auch der Februar hatte es in sich. Da veröffentlichten Bloc Party ihr "A Weekend In The City" und machten den Post-Punk plötzlich rührselig. Gelungen war es allemal. Bloß die Kritik werden wir in ein paar Jahren vielleicht revidieren müssen: "Ist "Weekend in the City" ein Klassiker? Das wird sich wohl erst im Laufe der nächsten Jahre beurteilen lassen. Aber ist es denn nun ein Meisterwerk? Diese Frage lässt sich schon jetzt beantworten: ja, es ist ein Meisterwerk. Und das vielleicht wichtigste und beste Album des Jahres!" Und auch den wunderschönen Shins attestierten wir eine wohlwollende Zukunft. Die Shins "reiten ... ihre eigene, von sich selbst ausgelöste Welle. Ein Ende scheint, zum Glück, nicht in Sicht." Ein Ende scheint auch für Regina Spektor nicht in Sicht zu sein - wohl aber für uns, die wir sie interviewen wollen. Mehrere verschobene Interview-Termine später war sie dann am Hörer - und gab gleichmal die kauzige Diva. Mit uns will Spektor bestimmt nicht mehr reden. Wir werden ihre Karriere trotzdem weiter verfolgen. Solange sie in Interviews noch solche Sätze zu sagen vermag: "Wann immer man etwas wiederholt, immer und immer wieder, und es sich natürlich und richtig anfühlt, dann ist man zu Hause. The Show becomes a home."

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Swinnerton

Auch der März gab sich großspurig. Maximo Park veröffentlichten ihr ersehntes Zweitwerk. Und siehe da, kein Kritik konnte maulen, ganz Europa liebte die Helden um Paul Smith. Wir im übrigen auch: "Der Song „Books from boxes“ ist ... wie Ritalin für die Gehörgänge und vielleicht der schönste Song, den Maximo Park bis dato geschrieben haben. Er könnte aber auch als das schönste Smiths-Stück durchgehen, das die Smiths nie geschrieben haben." Ähnlich euphorisch hätten wir uns auch gern über The Rakes geäußert. Deren Zweitwerk "Ten new Messages" war zwar gut - so gut wie ihr Debüt allerdings nicht. Dafür gab es eine Rap-Einlage, über die uns Gitarrist Swinnerton aufklärte: "Der Song "Suspicious Eyes" hatte von Anfang an mehrere Charaktere. Der Grund, warum wir einen Rapper und eine Sängerin einfügen wollten, war der, dass die Stimmen dieser Charaktere gehört werden sollten. Sie sollten hervorstechen, um die Stimmung voranzutreiben. Als Alan den Song die ersten Male allein sang, wurde überhaupt nicht ersichtlich, dass es mehrere Charaktere waren, aus deren Sicht Alan sang. Die Stimmung der Protagonisten, wie sie in der Londoner U-Bahn sitzen, nach den Anschlägen, und unter großer Angst und Paranoia leiden, all das wurde nicht so recht deutlich. Mit den beiden Gastsängern klingt "Suspicious Eyes" nun wie ein Theaterstück."

Bright Eyes veröffentlichten im April "Cassadaga" - und Conor Oberst machte wieder eine Drehung, die keiner erwartet hatte. Statt Folk oder Electro gab es nun ordentlichen Country - und obendrauf texte, die sich vom depressiven Wehklagen eines "Lifted..." meilenweit verabscheidet hatten. Gefiel uns anscheinend auch ganz gut: "Was mit einem Haufen Kassetten-Demos begann und über ein introspektives, geniales Folkalbum führte, ist jetzt zu einem Bandalbum geworden, das den Weg in die Zukunft weist. "Leave the sad guitar in it's hardshell case" heisst es da. Wer weiß, wann er sie wieder auspacken wird." Die Gitarre packten auch The Cooper Temple Clause wieder ein - und lösten sich auf. Das wussten wir im Interview aber noch nicht. Dafür aber war uns klar, dass die Band nie ein Teil des Brit-Hypes waren. Da musste auch die Band zustimmen: "Wir sind schon immer außerhalb dieser ganzen Szene gestanden. Wir fühlen uns nicht als Teil dieses ganzen schnelllebigen Prozesses. Jedes Jahr kommen da Bands auf, die anscheinend zu den besten der Welt gehören. Natürlich ist es gut, dass einfach jede Menge neue Musik entsteht, aber wir versuchen trotzdem uns davon fernzuhalten, was schon ganz gut klappt, wenn man nicht aus London kommt und nichts mit der Szene dort zu tun hat."

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Jubiläums-Flyer

Nun wäre es vermessen, von einer Nürnberger Indie-Szene zu reden. Aber zumindest war es doch positiv, unsere "Sellfish Tanzt!"-Reihe zum ersten Kindergeburtstag zu führen. Im april war es soweit: Exzess und Bier, Gin Tonic und Kapitulation. Es wurde gefeiert, demoliert, getanzt und zerstört. Die negativen Aspekte waren uns unangenehm - brennende Klos etwa. Zum Glück waren das die Ausnahmen. Mittlerweile ist unsere Disco-Reihe ein gern gesehener Wochenend-Termin und auch für uns eine regelmäßige Chance, neue und alte tanzbare Songs am meist tanzwilligen Publikum auszuprobieren. Was wurde da nicht alles an Bier verschüttet bei "Pflügen"...

Im Mai dann der Print-Launch. Unsere erste Ausgabe geht auf der Pop-Up in Leipzig an den Start. Schon die Autofahrt dahin ist kurios: "Haben wir überhaupt eine Kamera eingepackt? Eeeehhhh..." Auf dem Messe-Gelände haben wir uns dann wohl gefühlt. Hier die Rote Raupe, da Audiolith - könnte man glatt glauben, der unabhängige Medienstandort Deutschland sei noch nicht verloren. Am Ende sind die meisten Kartons leer und die Köpfe von Eindrücken voll. Wir denken da zum Beispiel an den phänomenalen Auftritt von Iskra beim Unterm Durchschnitt Labelabend.

Musik wurde auch veröffentlicht. Pünktlich zum Immergut-Festival hieften die Shout Out Louds ihr "Our Ill Wills" ans Tageslicht - und sorgten für Jubelstürme. "Und so fährt sie locker-flockig durch die schwedische Sommer-Idylle, die Shout Out Louds Lokomotive, sammelt sie alle ein, die in den vergangenen 40 Jahren Popmusik gemacht haben, die Byrds, Beach Boys, die Smiths, The Cure - und rattert unschuldig dem Sonnenuntergang entgegen. Eine Band und ihr Zweitwerk - zur rechten Zeit am rechten Ort." An diesem idealisierten Ort halten sich auch Tele auf, die wir beim Immergut-Festival zum intimen Plausch zwangen. Kein Wunder, bei derem Hang zum Pop: "Reising: Ich würde nicht sagen, dass wir noch nie einen schönen Popsong geschrieben haben, aber es ist auf jeden Fall nicht einfach. Manchmal hört man wunderbare Stücke und denkt sich, dass die total einfach gemacht sind. Aber genau das ist dann wohl das Große daran."

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Sara, Schwester von Tegan

Der Sommer gehört zwei deutschen Bands: Jupiter Jones und Tocotronic. "Die Band ... macht weiter. Weil sie muss, gar keine andere Wahl hat. In geschriebener Form könnte manch einem all der Pathos („Wer zählt die Tränen, wenn du weinst, was macht das Licht wenn’s grad nicht scheint") wahrscheinlich sauer aufstoßen. Aus den Mündern von Jupiter Jones klingt es, als ob viel weniger der Sache gar nicht gerecht würde. Neue Lieblingsplatte? Aber hallo!" Und auch die Kapitulation der ewigen Indie-Lieblinge Tocotronic sorgte für heißeren Jubel: "Mit Kapitulation haben Tocotronic endlich das geschafft, was ihnen kaum einer mehr zugetraut hatte: den Höhepunkt ihrer Post-College-Grunge-Phase. Vielleicht sogar das beste Album der Bandgeschichte."

Der Sommer neigte sich dem Ende zu, und wir liebten weiterhin Bands. Minus the Bear, denen mit "Planet of Ice" schon wieder ein großes Album gelang. "Zehn Songs und kein Ausfall darunter. Ausproduziert und dennoch mit so vielen Ecken, Kanten und Details ausgestattet, dass es nie langweilig wird. Nah dran an perfekt und würde es vielleicht noch ein paar mehr herausstechende Momente geben, hätte es wohl Höchstnoten gehagelt." Höchstnoten sollte es auch für Tegan & Sara geben. Deren neues Album The Con erschien - nur leider nicht bei uns in Deutschland. Immerhin schauten sie für ein paar Termine vorbei. Eine günstige Gelegenheit, eine der beiden Zwillinge, Sara, für ein gespräch zu entführen.

Ich weiß nicht, ob das Zitat von dir oder von Tegan ist: "There are unspoken things between twins". Was heißt das?
Wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben das gleiche Alter, wir sind zusammen zur High School gegangen, hatten die selben Erfahrungen als Heranwachsende - man teilt deshalb viele Sachen, auch die unausgesprochenen. Ich habe keinen Bruder und weiß nicht, ob das nun ein Phänomen speziell bei Zwillingen ist. Erst gestern haben wir noch darüber geredet, wie gut wir auf Tour miteinander auskommen. Denn eigentlich ist das ja ein unnormaler Zustand, dass erwachsene Menschen wochenlang miteinander herumhängen, von morgens bis abends. Tegan und ich können das aber besonders gut, weil es genau das ist, was Familien nunmal tun. Sie sind zusammen.

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The Robocop Kraus

Familie, das ist auch bei Turbostaat ein Thema. Allerdings ist da die Idylle meist eine kaputte, zerrissene. "Vormann Leiss" jedenfalls war ein bombensicheres Album, voller Abgründe und großer Hymnen. "Elf Songs. Kein Ausfall. Stagnation auf hohem Niveau. Was anderes haben wir uns doch gar nicht gewünscht. Top. Gleich wieder rein in die Anlage. „Kannst den Müll mitnehmen, wenn du gehst." Zwischen marodem Alltag und dem ganz großen Abgrund. Turbostaat haben das drauf." Drauf haben es auch The Robocop Kraus, die im Interview einen kurzen Blick in die Zukunft wagten:

"Abschließende Frage: Nach all den Jahren auf Tour: Wie lange wollt ihr den ganzen Zirkus noch mitmachen?
Thomas
: Bis der erste stirbt (alle lachen). Mit dem Alter hat das jedenfalls nicht so viel zu tun, die Jugend hat die Musik nicht für sich gepachtet. Es gibt auch genügend gute alte Performer. Die Jacob Sisters zum Beispiel."

Der Oktober und der November dann ganz im Tanzfieber. Die Wombats veröffentlichen ihr rundherum perfekte Brit-Punk-Pop-Album "A Guide To Love, Loss And Desperation". "Hauptsache sie bewahren bei dem ganzen Wahnsinn, der in den kommenden Monaten über sie hereinbrechen wird, ihren Humor. Großartiges Debüt!", hieß es bei uns. Genauso wie über Jens Friebe, der mit dem sagenhaften "Das mit dem Auto ist egal, hauptsache dir ist nichts passiert" alles abräumte: ""Was Es Will" und "Frau Baron". Wie dort Sprache und Musik verzahnt werden, das macht so leicht keiner mehr nach. Pop-Wunderwerke sind das. Wo das noch hinführen soll...?"

Kleine Wunderwerke schuf auch Künstler Kevin Hooyman, der das Cover zu !!! und The Robocop Kraus designte. Im interview verrieht er: "Es ging darum herauszufinden, was relevant wäre. Ich liebe Album-Cover, also habe ich an ein paar meiner Favoriten gedacht und mir überlegt meine eigene Version des Covers „Sweetheart Of The Rodeo“ der Byrds zu machen. Ursprünglich hatte ich diesem Robocop Typen als zentrale Figur eine Gitarre verpasst, bei der ich mir dachte Robocop might have had in the 80’s vision of the future. Das war die Variante, die der Band nicht so gefallen hat und sie hatten Recht. Thomas sagte mir, ich solle einfach ein paar Typen in meinem Stil zeichnen, anstatt Robocop zu kopieren und das war super. Das war so lehrreich. Vertrau dir einfach selbst. Das ist die beste Art zu zeichnen. Während ich an so etwas arbeite, höre ich die ganze Zeit dazu das Album und hoffe, dass die Musik ihren Weg aufs Blatt findet."

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Weakerthans

Im September dann mal wieder ein neuer Konzert-Versuch: pünktlich zum Jubileum "6 Jahre Sellfish" holten wir die Engländer The Victorian English Gentlemen's Club ins Nürnberger Stereo. Die spielten dort einen völlig verrückten Gig und gaben sich davor und danach als die auskunftsfreudigste und sympathischste englische Band, die uns seit langem untergekommen ist. Abgerundet wurde der Abend durch ein reichhaltiges Kuchenbüffett und Escape Hawaii an den CD-Reglern. Der 30.9.2007 gehört in die Sellfish-Annalen eingraviert.

Dann wurden The National von uns besucht. Diesmal allerdings nicht in Köln, sondern in Berlin. Die auf ewig geschlauchten und gebeutelten Vollblutmusiker verrieten im Interview über ihren Songs "Mistaken For Strangers":"Da ist so eine ganz bestimmte Spannung. There is a boiler that never explodes. Bei einigen anderen Stücken ist das ähnlich und ich bin mir nicht sicher, was es zu bedeuten hat, aber das Album funktioniert auf diese Weise sehr gut, wie ich finde. Ich mag diese Atmosphäre." Die Atmosphäre mochten wir im Dezember übrigens auch bei Radiohead. "Alleine für die Gitarrenarbeit auf „In Rainbows“ würden manche Bands wohl ihren Majorplattendeal herschenken. Ob Radiohead ihre Pole Position jemals wieder abgeben werden, bleibt spätestens mit „In Rainbows“ fraglich."

Das schönste Schlusswort, weil unendlich versönlich, gehört den Weakerthans:

Habt ihr in den letzten Jahren je darüber nachgedacht die Band aufzulösen?
Nein. Wenn dann geht es darum sich für eine längere Zeit frei zu nehmen. ‚Breaking up’ is something teenagers do. Ich finde so etwas kindisch. Wenn dann würden wir einfach aufhören Musik zu machen, um dann vielleicht irgendwann wieder weiterzumachen. Ich fände das bescheuert eine Mitteilung rauszugeben, dass wir uns aufgelöst hätten.

Die Weakerthans werden also sozusagen immer da sein?
Ja genau. Es wird in manchen Zeiten vielleicht einfach etwas ruhiger um uns werden..."

Fotos: offizielle Pressefreigaben


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