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Turbostaat Interview

Sieben Jahre, die nun Mythos werden, gezählt

 

„Der Nordmensch an sich ist ein seltsamer. Ruhig, knarzig und wortkarg.“ So beginnt der aktuelle Infotext über Turbostaat und wie bei jedem Klischee stimmt das natürlich - wenn überhaupt - nur teilweise. Erwischt man die Band im richtigen Moment, lässt sich ganz ausgezeichnet Konversation betreiben, trifft man sie zwischen Tür und Angel, kann es schon mal vorkommen, dass man ihnen nicht so richtig viele Sätze entlocken kann.

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Haben sie Beweise? – Nein!
(„Der Frosch hat’s versaut“)


Es ist Dockville Festival. Wir sind in Hamburg und just am Vortag ist „Vormann Leiss“, das dritte Album von Turbostaat veröffentlicht worden. Und wie will sich auch schon eine lauschige Frage/Antwort-Atmosphäre entwickeln, wenn man sich auf einem Festival trifft, die Band sich gerade in der unentspannten Phase zwischen ankommen und auftreten befindet und im Tourbus gefühlte 78 Grad herrschen? Hauptsongwriter und Gitarrist Marten, sowie Schlagzeuger Peter versuchen trotzdem gute Miene zum bösen Spiel zu machen und dennoch merkt man ihnen an, dass sie die Promomaschine jetzt gerne mal langsam stoppen würden. Es ist nicht einfach die künstlich erzeugte Gesprächssituation aufzulockern und am Ende kommt tatsächlich nicht viel Zitierfähiges bei rum. Zu allem Übel entpuppt sich das Aufnahmegerät im Nachhinein als Verbrechen der Industrie und hinterlässt nur Stille. Damit ist das Interview dahin, es bleiben nur noch ein paar Erinnerungsfetzen hängen, die im folgenden Text Einzug finden. Aber wozu auch viele Worte? Die Musik der Band spricht für sich selbst.

Wenn das Jahr vergeht / und nichts passiert / der Strom ausfällt / und das Licht ausgeht / das ertrage ich / doch eines nicht / du sollst mich nicht Roboter nennen!
(„Nach fest kommt ab“)


Turbostaat haben sich Zeit gelassen für das oft als „wegweisend“ geltende dritte Werk. Vier Jahre sind vergangen seit dem die Flensburger den Vorgänger „Schwan“ aufgenommen haben und seitdem trotz Veröffentlichungsabstinenz überproportional viele Fans dazu gewinnen konnten. Das liegt natürlich einerseits daran, dass das Quintett kein Jugendhaus und keine kleinen bis mittelgroßen Bühnen ausgelassen hat, um seinen dreckigen und schwer emotionalen Punkrock unters Volk zu bringen. Zum anderen daran, dass auf „Schwan“ und dem Erstling „Flamingo“ nahezu kein einziger Ausfall zu finden war. Turbostaat haben eine Hitdichte, wie nur wenig andere Kapellen in diesem Land und um das hinzukriegen braucht es seine Zeit. Turbostaat leben immer noch von zahlreichen internen Diskussionen. Und in der Zeit, in der andere Bands mindestens zwei Alben raushauen, machen Turbostaat eben nur eins. Songs kommen nur dann aufs Band, wenn es wirklich etwas zu sagen gibt und wenn alle mit dem Ergebnis voll zufrieden sind. Sicher nicht ganz einfach immer dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, aber genau deswegen ist „Vormann Leiss“ eben wieder ein hervorragendes Album geworden, welches die Schrammelpunkgemeinde glücklich machen sollte.

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Dabei schaffen sie den Spagat zwischen DIY-Attitüde, Auftritt im Vorprogramm der Beatsteaks und seit neuestem: MTV-Rotation. Die oftmals engstirnige Szenepolizei schweigt im Falle Turbostaat. Platte Sellout-Vorwürfe hat man jedenfalls noch nicht gehört. Daran ändert auch nichts, dass „Vormann Leiss“ nicht mehr auf dem Hamburger Qualitätslabel „Schiffen“ erscheint, sondern über „Same Same But Different“ und den Major Warner Music. Und warum auch? Musikalisch hat man nicht so viel verändert. Dafür steht Rotze, Gitarrist Nummer zwei, gerade. Die Produktion ist etwas weniger dreckig, das Tempo nicht mehr ganz so hoch. Ansonsten aber alles beim alten: Die Stimme von Jan klingt immer noch schön rau und unangepasst, die Texte aus Martens Feder trotz Alltagssprache konsequent unverständlich. Dennoch hat man das Gefühl ganz nah dran zu sein. Und aus der Hand nehmen, lässt sich die Truppe ja sowieso nichts. Weder das Artwork, für das sich wieder Bassist Tobert verantwortlich zeichnet und erst recht keine musikalischen Entscheidungen.

Er macht die Knöpfe fest / und drückt sie rein / wir können alles / und alles können wir sein. („Vormann Leiss“)

Lediglich das äußere Erscheinungsbild hat man vielleicht nicht mehr zu 100 Prozent in der Hand, denn nicht nur der Infotext labt sich am Abziehbild des Norddeutschen, auch die Fachpresse lässt keinen Querverweis zur Herkunft der Band aus. Während Uncle Sally’s die Musik von Turbostaat mit „meterhohe[n] Wellen durch die von eisigen Winden aufgepeitschte Ostsee“ vergleicht und der Band einen Hausbesuch in Flensburg abstattet, verschlimmbessert die Visions ihren Artikel direkt grafisch mit blauen Wellen bis zur Unlesbarkeit. Ganz unschuldig daran sind Turbostaat natürlich nicht, denn in den Texten lassen sich viele Assoziationen zum Meer und zu Norddeutschland finden. Da gibt es zum Beispiel Augen, die „auf Fischer, auf den Hafen und den Wind“ starren oder Songs, die sich „U-Boot Manöver“, „Insel“ oder „Blau an der Küste“ nennen. Und auch der Albumtitel hat einen direkten Bezug, denn „Vormann Leiss“ ist der Name eines Seenotkreuzers, der zur Rettung von Schiffbrüchigen dient. Trotzdem sind sie „absolut keine Lokalpatrioten“ wie Peter betont und Marten fügt hinzu, dass man von der Presse gerne in dieses Bild gezwängt werde, selber darüber aber eigentlich gar nicht so viel nachdenken würde. Auch wollen die beiden keinen direkten Bezug zwischen Turbostaat und dem Rettungsschiff zulassen. Dass sie mit ihrer Musik selbst ein wenig Menschenleben retten oder zumindest verbessern und im übertragenen Sinn so manchen Schiffbrüchigen aufsammeln, wollen sie nicht so verstanden wissen. Ein verschmitztes Lächeln kann man sich aber trotz allem nicht verkneifen.

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Das Meer kennt seinen Weg / denn es war schon immer hier / das Meer kennt seinen Weg / und kehrt zurück zu dir.
(„Am Ende einer Reise“)


Auch Produzent Moses Schneider (Beatsteaks, Tocotronic, Kante u.a.) will den Bezug nicht so ganz von der Hand weisen und sagt im Uncle Sally’s Interview: „Das Moll im Norden ist ja ein ganz anderes als das im Süden, diese Traurigkeit findest du nur an der Küste.“ Und tatsächlich wird diese Einschätzung bestätigt, wenn man an Bands wie Matula, Captain Planet oder zahlreiche Hamburger Bands denkt. Vorausgesetzt man zählt Hamburg als Geografie-Null zur Küstenregion. Gegenbeispiele aus dem Süden wie Sportfreunde Stiller oder Anajo scheinen diese These noch zu bekräftigen und dennoch ist sich Marten nicht so sicher, ob man das so einfach pauschalisieren kann. „Eine Band, die so ähnliche Musik macht, wie wir, kann meiner Meinung nach von überall herkommen und nicht nur aus dem Norden.“ Kann sein. Wer weiß, vielleicht haben sich im Zuge der Turbostaat-Platten sogar einige gegründet. Am Ende sogar im Süden. Aber so sehr auf den Punkt, bringen es im Moment tatsächlich nur Bands aus dem Norden. Und so perfekt, vielleicht sogar nur eine Band. Ihren Namen kennt ihr spätestens jetzt.

Text: Sebastian Gloser
Fotos: Pressefreigaben


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